Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
grüner Schössling aus der Erde des Blumentopfs und verlängerte sich zu einer gewundenen Ranke. Die Ranke bekam Blätter und verbreiterte sich an der Spitze, bis rosafarbene Blütenblätter entstanden. In kürzester Zeit streckten sich die Blätter genüsslich, verwelkten und starben ab.
»Ja«, erwiderte Roosevelt und musterte, eindeutig angewidert, einen Fleck auf dem Tisch. »Das ist er.«
Fugit rülpste, pflückte etwas aus seinem fettigen Haar, betrachtete es und steckte es sich in den Mund. »Läuse«, verkündete er.
»Du musst Fugit sein«, meinte Avi, der dem Mann nicht zu nahe kommen wollte.
Fugit war größer als eine Elfe, aber kleiner als ein Mensch. Sein Kopf war im Vergleich zum restlichen Körper recht groß ausgefallen und lief oben leicht spitz zu. Er hatte ein faltiges Gesicht, was, wie Avi vermutete, nicht am Alter lag. Unter den wässrigen Augen saßen riesige Tränensäcke. Er sah aus, als hätte er seit einem Monat nicht geschlafen. Außerdem hatte er etwas Seltsames an sich, das Avi jedoch nicht einordnen konnte.
»Richtig«, antwortete Fugit und riss den Mund zu einem gewaltigen Gähnen auf. Im Gegensatz zu seiner sonstigen Person waren seine Zähne sehr sauber und ebenmäßig.
»Du hast dir ein Gebiss machen lassen«, stellte Roosevelt fest.
»Einer der Vorzüge der sterblichen Welt«, entgegnete Fugit.
»Wie hältst du diesen Lärm aus?«, erkundigte sich Avi.
»Welchen Lärm?«
In diesem Moment wurde Avi klar, was ihm an dem schmuddeligen kleinen Mann so merkwürdig erschienen war: Er hatte keine Ohren. Er wollte schon eine Bemerkung dazu machen, kam aber zu dem Schluss, dass es unhöflich gewesen wäre.
»Das ist nicht die richtige Uhr, oder?«
Fugit lächelte verschwörerisch. »Kluger Junge. Wie bist du darauf gekommen?«
»Nun, sicher erscheint ab und zu ein Mechaniker hier oben, um das Uhrwerk aufzuziehen oder zu warten. Dann würde man dich finden und vor die Tür setzen. Außerdem stimmt etwas mit diesem Mechanismus nicht – die zahlreichen Räder und so. Es sind … ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll … zu viele.«
Fugit gähnte wieder. »Uhrwerke sind tief, und dieses hier ist tiefer als die meisten. Die Sache ist, dass du dich irrst. Das hier ist die richtige Uhr. Die, welche die Sterblichen zu sehen kriegen, das ist die falsche.«
»Aber wie schaffst du es, sie zu verstecken?«
Mit einer ruckartigen Bewegung zog Fugit die hängenden Schultern hoch. »Äh? Ach, das ist das Werk meines Bruders Blink. Er hat mir eine kleine Nische im Raum geschaffen, so dass ich und meine Gerätschaften unbemerkt bleiben. Sie werden mich niemals aufspüren, da können sie suchen, bis sie schwarz werden.«
Fugit gähnte erneut, ließ den Kopf hängen und schloss die Augen.
»Was macht er da?«, erkundigte sich Avi bei Roosevelt.
»Ich glaube, dass du gleich eine Demonstration seiner Fähigkeiten zu sehen kriegen wirst.«
Wie auf ein Stichwort begann Fugit zu schnarchen.
Sofort verstummte das Ticken im Raum. Das riesige Uhrwerk blieb stehen, alle Bolzen und Hebel erstarrten in der Bewegung.
»Hier hinüber!«, rief Brucie. Sie flatterte zu einem der vier Zifferblätter, das aus Hunderten von einzelnen Glasscheiben bestand. Brucie hatte eine Scheibe gefunden, die sich öffnen ließ, und spähte hinaus. Avi folgte ihrem Beispiel.
Der Verkehr auf der Westminster Bridge stand still. Die Fußgänger waren mitten im Schritt erstarrt. Auf dem Fluss lagen Boote auf gefrorenen Wellen. Die Welt hatte innegehalten wie in der Nacht, als Kellen Avi aus dem Krankenhaus und in dieses Abenteuer gejagt hatte.
»So funktioniert es also«, erkannte Avi. »Wenn er einschläft, schläft auch die Welt. Ich dachte, es hätte etwas mit seinem Gemütszustand zu tun.«
»Das auch. Aber wenn er einschläft, spielt sonst nichts eine Rolle. Fugit hält ein Nickerchen, und die Welt hat Pause.«
Im Himmel hing reglos ein Flugzeug, halb verdeckt von einer unbeweglichen Wolke.
»Warum erstarren wir nicht auch?«, fragte Avi.
»Angesichts der vorliegenden Beweise kannst du dir das sicher selbst denken«, entgegnete Roosevelt und trat auf den dösenden Fugit zu.
Als Brucie hilfsbereit um Avis Kopf herumschwirrte, scheuchte er sie weg.
»Weil wir nicht von dieser Welt sind«, meinte er schließlich. »Das ist der Grund. Wenn Hannah jetzt hier wäre, würde sie erstarren wie alle Leute da unten, richtig?«
»Das würde sie in der Tat«, antwortete Roosevelt, streckte vorsichtig den Finger
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