Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
die ersten Fahrer zu hupen.
Roosevelt und Brucie debattierten weiter über die jeweiligen Vorzüge von Fugit und seinem Bruder Blink, doch Avi hörte nur mit halbem Ohr hin. Ihm erschien die Sache entsetzlich kompliziert. Er wollte doch nichts weiter, als Hannah finden und sie aus dem Gefängnis befreien, in das Kellen sie sicher gesperrt hatte. Dazu musste er darauf vertrauen, dass seine seltsamen Freunde wussten, was sie taten.
Im nächsten Moment rief etwas nach ihm. Nein, es war kein Rufen, sondern Gesang.
Zunächst hielt er es für die Klagelaute der Zootiere in ihren Käfigen, doch der Zoo lag viele Kilometer hinter ihnen. Außerdem wunderte er sich, dass er trotz des lauten Gehupes überhaupt etwas hören konnte.
Es war kein Geräusch im eigentlichen Sinn, sondern eher etwas in seinem Kopf, das sich wie ein Angelhaken festsetzte und an ihm zerrte.
Das Buch.
Avi holte es aus dem Rucksack. Es fühlte sich kalt an, was ihm merkwürdig erschien, da Brucie ja darauf gelegen hatte. Als er das Buch auf seinen Schoß legte, wurde das Lied lauter. Ein Blick sagte ihm, dass seine Begleiter noch immer ins Gespräch vertieft waren.
Bist du jetzt bereit?, fragte er sich und hob den Buchdeckel einen Zentimeter an. Er spürte keinen Widerstand. Ist es Zeit?
Die Seiten öffneten sich wie von selbst. Kurz wimmelten die Wörter wie Ameisen über das Papier, dann ritt er auf ihnen zurück in die Vergangenheit, in einen Raum, wo …
… eine schlanke Frau vor einem Bogenfenster steht. Die Frau trägt ein Gewand aus weißem Hermelin mit einer smaragdgrünen Schärpe. Auf dem Kopf hat sie einen Lorbeerkranz. Sie kehrt mir zwar den Rücken zu, aber ich brauche ihr Gesicht nicht zu sehen, denn ich erkenne an der Haltung ihres Rückens, der Rundung der Hüften, dem stolz gereckten Hals und den zarten, locker hinter dem Körper verschränkten Händen, dass es meine Mutter ist. Arethusa.
Sie singt.
»Hand in Hand gelobten wir zu schreiten.
Der Feen Anmut niemals soll vergeh’n.
Singen dem Sommer in des Winters Weiten.
Dass dieser Ort auf ewig wird besteh’n.«
Beim Singen umfassen ihre dunklen Hände sich fester. Draußen vor dem Fenster funkeln Schneeflocken im silbrigen Mondlicht.
»Bitte«, sage ich. »Schick mich nicht fort.«
Ich weine. Meine Kehle ist wie zugeschnürt und schmerzt. Doch die Frau – meine Mutter – antwortet nicht.
Zeit vergeht. Schnee sammelt sich auf dem Fensterbrett. Wir, Mutter und Sohn, stehen da wie Statuen. Dann ergreift sie das Wort:
»Da gibt es nichts zu debattieren. Die Entscheidung ist gefallen. Du musst das Feenreich verlassen, Avi, und zwar noch heute Nacht.«
»Aber warum?«
»Keine Widerrede. Aber du wirst nicht allein gehen.« Sie schaut zum Fenster. »Brucie, komm her.«
Eine Elfe erscheint am Fenster. Ihre Flügel sind silbern wie der Schnee. Der Atem steht ihr wie eine Wolke vor dem Mund, und sie reibt sich zitternd die kleinen Arme.
»Also los«, sagt sie.
Wie in Trance gehe ich zum Fenster. Eine Treppe aus Efeu führt hinunter in einen verschneiten Garten. Ich folge Brucie die Stufen hinunter, die hinter mir verwelken, so dass es keinen Weg zurück mehr gibt, als ich unten angekommen bin.
Die Frau steht noch immer am Fenster, doch sie hat sich abgewandt, um nicht mit ansehen zu müssen, wie ihr einziger Sohn sie verlässt. Sie hebt die Hand, und ein kleiner Vogel landet darauf. Sein Gefieder ist grün wie Jade, und er hat einen langen reptilienähnlichen Schwanz.
Brucie fliegt voraus. Ich trotte hinterher. Meine Füße fühlen sich im Schnee schwer an, aber mein Herz ist noch schwerer. Bald erreichen wir einen Fluss, der so breit ist wie ein See. Der Boden ist hartgefroren. Mir rutschen die Füße weg, und ich lande unsanft auf dem Rücken. Wie ich so daliege, spüre ich, wie die Winterkälte meine Kleider, meine Haut und meinen gesamten Körper durchdringt, bis er beinahe gefühllos ist. Als ich weinen will, fallen Schneeflocken auf meine Augen, und die Tränen gefrieren, bevor sie fließen können. Also schreie ich meine Trauer zum Mond hinauf, während Brucie aufgeregt hin und her schwirrt, an mir zerrt und mich auffordert …
»Steh auf, Avi, komm. Das ist unsere Haltestelle.«
Avi klappte das Buch zu. Seine Finger waren eiskalt, als hätte er im Schnee gewühlt. Das Sonnenlicht, das durch die Fenster des Busses fiel, blendete ihn.
»Wo sind wir?«, fragte er.
»Westminster«, erwiderte Roosevelt. »Bist du bereit für eine Zeitreise?«
Kapitel
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