Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
Sohn wegzustoßen. Die Raben stürzten sich auf die beiden und pickten nach ihnen, bis Kellen rückwärts auf eine Lücke zwischen den Zinnen zutaumelte und Levi mit sich riss. Als die Raben den letzten Angriff flogen, stürzte Kellen über die Brüstung. In letzter Minute bekam Levi noch seine Hand zu fassen.
»Guter Junge!«, sagte Kellen. »Und jetzt zieh mich hoch.«
»Das versuche ich ja«, keuchte Levi. Mit beiden Händen Kellens Handgelenk umklammernd, stand er schwankend auf der Brüstung. Kellens Füße baumelten in der Luft. Da landete ein Dutzend Raben auf Levis Rücken und begann, auf ihn einzupicken, so dass er aufschrie und mit einer Hand losließ. Die andere geriet ebenfalls ins Rutschen, konnte aber gerade noch nach Kellens Manschette greifen.
Langsam glitt Kellen aus seinem Gewand.
»Wehe, wenn du mich fallen lässt, Junge!«, drohte er. »Dann gnade dir Gott.«
Levi wollte fester zupacken, aber es war zu spät. Kellen schlüpfte ihm durch die Finger, fiel drei Stockwerke tief und landete mit einem gewaltigen Platsch im Wasser.
Sofort begann er laut zu schreien.
»Vater!«, rief Levi und kletterte auf die Brüstung. »Ich rette dich!«
Er drehte sich zu den Goblins um und wies auf Hannah und Avi. »Bewacht sie!«
Weiter nach den Raben schlagend, rannte er durch die Tür und den Weg zurück, den sie gekommen waren.
Hannah, die neben Avi auf dem Boden lag, zitterte am ganzen Leib und hatte die Finger gekrümmt wie Klauen.
Im nächsten Moment stürzten sich die Raben auf die beiden Goblinbrüder, die über das Loch im Boden sprangen und die Flucht ergriffen. Der Goblin mit der Narbe jedoch ließ sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen und holte mit seinem Schwert nach den Raben aus. Nachdem die Vögel ihm das Schwert entrissen hatten, fuchtelte er noch eine volle Minute wild herum. Erst als er den Verlust seiner Waffe bemerkte, nahm auch er die Beine in die Hand.
Hannah stieß ein erschöpftes Stöhnen aus. Avi half ihr auf und stützte sie auf dem Weg zu den Zinnen. Weit unter ihnen schwamm Kellen inmitten seiner Gewänder. Er zappelte schwach im Wasser, und seine markerschütternden Schreie hatten sich in ein schmerzerfülltes Keuchen verwandelt. Levi stand sicher und trocken auf einem kleinen steinernen Bootssteg und versuchte, seinen hilflosen Vater an Land zu ziehen. Nach seinen zuckenden Schultern zu urteilen, vermutete Avi, dass er weinte. Doch für Mitleid war jetzt keine Zeit.
Wieder sauste ein Geschoss über ihre Köpfe hinweg. »Offenbar dienen wir hier als Zielscheiben«, sagte Avi. »Kannst du laufen?«
»Ich glaube schon«, erwiderte sie.
»Dann los. Wir müssen Brucie finden.«
Auf der Treppe ging er voran, für den Fall, dass ihnen jemand entgegenkommen sollte. Im Schutz der dichten Qualmwolken hasteten sie durch die Schmiede. Auf die Schmiede folgte ein schmaler Flur mit vielen Türen. An jeder Ecke führte eine steinerne Treppe in die Dunkelheit. Wo war nur die Küche?
»Da unten ist am meisten Dampf.« Hannah zeigte mit dem Finger auf eine Abzweigung.
Nachdem sie einige Male falsch abgebogen waren, hatten sie endlich die Tür der Burgküche erreicht. Hier war der Dunst noch dichter als der dichteste Nebel. Außerdem stank es nach Weißkohl.
»Orientiere dich an der Wand«, wies Hannah ihn an und trat durch den niedrigen Türbogen in die Nebelsuppe. Obwohl sie zum Greifen nah war, konnte Avi sie kaum sehen. »Hier, nimm meine Hand.«
Ein gewaltiges Feuer brannte, auch wenn es nur als dunstiges Leuchten auszumachen war. Hitzewellen schlugen ihnen entgegen wie Hiebe mit einem Hammer. Als sie sich um den Raum herumtasteten, lichtete sich der Qualm lange genug, so dass sie einen riesigen Kessel über dem Feuer erkennen konnten. Darüber war ein Steg angebracht, auf dem eine kleine Armee von Goblins stand und mit riesigen Schöpfkellen im Kessel herumrührte.
»Wo, glaubst du, halten sie sie gefangen?«, fragte Hannah. »Und warum haben sie sie überhaupt hergebracht?«
Reduzieren. »Darüber will ich lieber gar nicht nachdenken.«
Ein Riese in der weißen Tracht eines Kochs schlurfte vorbei. Avi reichte ihm gerade bis zu den Knien. Die Schürze des Kochs war voller Blutflecken, und blutige Fleischfetzen hingen in seinem Bart. Eine seiner Augenhöhlen war leer und bestand nur aus einer gewaltigen Narbe.
Der Koch steuerte auf ein enormes Fleischstück zu, das an einigen Stahlhaken hing. Es sah aus wie der Kadaver eines Ochsen, nur dass allein ein Horn so breit war
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