Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
war nur die Bettdecke über seinem Gesicht. Er schob sie beiseite. Die Traumstimmen hallten noch in seinem Kopf.
Wo bin ich? Im Krankenhaus? Im besetzten Haus?
Doch die Matratze war weder viereckig wie im Krankenhaus noch feucht wie im Obdachlosen-Haus. Stattdessen war das Bett lang und geschwungen, hatte einen Bug wie ein Boot und einen mit seidenen Blättern geschmückten Baldachin. An den Wänden befanden sich weitere Blätter. Durch eine offene Tür wehte das Klimpern eines Windspiels herein.
Avi setzte sich auf, und ihm fiel wieder ein, wo er sich befand.
Nach der Flucht aus dem Turm waren Avi und Hannah in Windeseile fortgebracht worden. Schlanke Elfensoldaten hatten sie mit unglaublich zarten Berührungen aufgehoben und sie in eine gewaltige Sänfte gesetzt, die von gedrungenen Trollen mit Körpern wie knorrige Baumstümpfe getragen wurde. Irgendwann unterwegs hatte man ihm Brucie sanft aus den Armen genommen und ihm versprochen, sich um sie zu kümmern. Avi war zu müde, um zu protestieren.
Ein zorniger Wind trug dunkle Wolken heran, und es begann zu schneien.
Nach einer Weile trugen die Trolle die Sänfte durch ein Tor, das im Unwetter nur schattenhaft zu erkennen war. Sie befanden sich in einem unterirdischen, von tausend flackernden Kerzen erleuchteten Hof. Von dort aus wurden sie durch lange Flure in ihre Schlafzimmer geführt, wo sie die Nacht verbringen sollten. Vor den Türen wurden Feenwachen postiert. Avi wusste nicht, ob sie die Aufgabe hatten, sie am Verlassen der Zimmer zu hindern oder Kellen fernzuhalten.
Als er erschöpft ins Bett fiel, war sein Plan eigentlich, sich ein wenig auszuruhen und dann mit Hannah das Gebäude zu erkunden. Doch stattdessen schlief er ein. Offenbar hatte ihn jemand zugedeckt, denn als er am folgenden Morgen erwachte, lag er unter der Decke. Außerdem hatte derjenige ihn umgezogen. Avi stellte fest, dass er nun eine grüne Tunika und eine enganliegende Hose trug. Die neuen Kleider passten ausgezeichnet.
Die peinliche Situation, von einem Fremden entkleidet worden zu sein, wurde von der Erleichterung abgemildert, dass er nun die von Roosevelt geliehenen Sachen los war. Sie hatten nie richtig gesessen und nach dem Bad im Fluss und drei Tagen in einer Gefängniszelle unerträglich gestunken.
Nur Durins Mantel, der, soweit er wusste, noch am Südufer des Flusses unweit des Globe Theatre im Feenreich lag, fehlte ihm.
Avi stand auf und ging in die Zimmerecke, wo ein kleiner Brunnen in einem mit Kieselsteinen gefüllten Becken plätscherte. Nachdem er sich das Gesicht gewaschen hatte, betrachtete er sich in dem goldgerahmten Spiegel. Das Gesicht, das ihm entgegenblickte, wirkte älter, als er es in Erinnerung hatte. Auch seine Augen hatten sich verändert. Sie waren nun hellgrün mit blauem Rand. Während er sie weiter musterte, entstanden weiße Pünktchen wie Schneeflocken, die von einem winterlichen Himmel rieselten.
»Avi«, sagte eine dunkle Stimme von der Tür aus.
Eine männliche Fee kam, die Hände auf dem Rücken verschränkt, herein. Wie die Soldaten, die Avi gesehen hatte, war der Mann hochgewachsen und schlank. Sein Schädel war kahl, ja, er hatte überhaupt keine Behaarung. Sogar die Augenbrauen fehlten. Seine Haut war zart violett – Avi konnte nicht feststellen, ob es sich um seine natürliche Hautfarbe oder um ein Puder handelte. Seine Ohren liefen spitz zu. Bei jedem Schritt brauchte sein Fuß unnatürlich lange, um wieder den Boden zu berühren, so als hätte er eine besondere Vereinbarung mit der Schwerkraft getroffen.
»Wer bist du?«, fragte Avi. Wasser tropfte ihm vom Kinn, und er hielt Ausschau nach einem Handtuch.
»Ich bin Tyrian«, entgegnete der Mann mit einer tiefen Verbeugung. »Wasch dir noch einmal das Gesicht.«
»Verzeihung?«
»Wasch dir noch einmal das Gesicht.«
»Das habe ich doch gerade getan. Eigentlich wollte ich mich jetzt abtrocknen.«
Als Tyrian die Arme verschränkte und mit dem Fuß auf den Boden klopfte, gab es trotz der harten Fliesen kein Geräusch. »Dann tu es bitte noch einmal, junger Herr. Du bist heute mein erster Fall. Bring meinen Zeitplan nicht durcheinander.«
Verdattert – und auch leicht verärgert, weil er als »Fall« bezeichnet worden war – gehorchte Avi. Zu seinem Erstaunen war sein Gesicht nach dem zweiten Kontakt mit Wasser völlig trocken.
»Wie funktioniert denn das?«, erkundigte er sich.
Tyrian seufzte. »Ach herrje, da haben wir offenbar eine Menge vergessen. Folge mir, junger
Weitere Kostenlose Bücher