Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
Herr, dann wird man dir alles erklären.«
»Warum? Wohin gehen wir?«
Ein theatralisches Stöhnen. »Musst du denn auf alles eine Antwort haben? Natürlich will deine Mutter dich sehen.«
Nach jeder Abzweigung wurde der Palast prächtiger. Die Flure verbreiterten sich, die Fenster hatten prunkvoller gearbeitete Rahmen, so als ob jede Aussicht, die sie boten, ein Kunstwerk gewesen wäre. Überall war Licht, das in üppigen und fließenden Bewegungen hereinströmte wie Farbe vom Pinsel eines Malers. Kronleuchter hingen wie Stalaktiten an unbeschreiblich hohen Decken. Selbst die Mosaike auf den Fußböden schienen von selbst zu strahlen. Das Licht ließ jeden Bogen hervortreten, liebkoste jede Statue und verwandelte jeden Schritt in ein Gleiten über makellosen Kristall.
Avi erinnerte sich ein wenig an den Palast, weil er in seinem Erinnerungsbuch darüber gelesen hatte. Hier hatte das große Bankett stattgefunden, und hier hatte er sich auch von seiner Mutter verabschiedet. Es waren zwar nicht viele Einzelheiten, aber diese standen ihm noch deutlich vor Augen. Allerdings fehlte etwas. An diesem Ort zu sein – wieder zu Hause –, hatte etwas Unwirkliches an sich.
Tyrian führte ihn um eine wie der Schweif einer Meerjungfrau geformte Säule herum zu einer vertrauten Tür: dem Eingang zu Arethusas Privatgemächern.
Avi dachte an das Krankenhaus und daran, wie er vor der Tür des Zimmers von Hannahs Mutter gestanden hatte. An die Tränen auf Hannahs Wangen und die Liebe zu ihrer Mutter, die von ihr ausging.
Er bemerkte, dass er sich den Raum hinter dieser Tür vorstellen konnte. Seine Mutter würde am Fenster stehen. Draußen würde lautlos Schnee vom Himmel fallen. Aus den Kissen auf ihrem Sofa würde ein zarter Jasminduft aufsteigen. Vor seinem geistigen Auge war jedes Detail so klar wie Eis.
Und in seinem Herzen wehte ein kalter Wind.
»Fühlst du dich nicht wohl, junger Herr?«, fragte Tyrian, bevor er läutete.
Ich fühle gar nichts, schoss es Avi durch den Kopf. »Alles in Ordnung«, antwortete er nur.
Eine leise Glocke ertönte, und eine dunkle Frauenstimme forderte zum Eintreten auf. Tyrian schob Avi in den Raum und zog sich zurück.
Sie stand genau so da wie erwartet und trug dasselbe weiße Gewand aus Hermelin wie in der Nacht, als sie ihn fortgeschickt hatte. Das Kleid reichte bis zum Boden. Der plissierte Gürtel bestand aus grüner Seide. Vergangenheit und Gegenwart überlagerten sich, so dass Avi kurz schwindelte.
»Avi, mein Liebling«, sagte Arethusa und durchquerte mit erstaunlicher Anmut das Zimmer, als hätte ihr Körper keine Knochen. Wie bei Tyrian verursachten auch ihre Füße kein Geräusch. Ihre Haut war dunkel und glatt und schien keine Poren zu haben. Ihre Augen waren ebenfalls grün und leuchteten wie Frühlingslaub. Sobald sie Avi erreicht hatte, zog sie ihn in ihre Arme, so dass seine Füße einen Moment vom Boden abhoben. Er spürte das wilde Pochen ihres Herzens und auch, dass ihr der Atem in der Kehle stockte. Doch in seinem eigenen Herzen herrschte nur Ungewissheit, und sein Atem ging langsam, regelmäßig und gelassen.
»Komm«, forderte sie ihn auf und gab ihn sichtlich widerstrebend frei. »Setz dich zu mir.« Ihre Zähne blitzten strahlend weiß zwischen dunklen Lippen hervor.
Das Sofa war weich und lang. Die Kissen dufteten. Dahinter stand ein goldener Käfig, in dem ein Vogel mit einem kräftigen Eidechsenschwanz sein smaragdgrünes Gefieder putzte.
Avi nahm zuerst Platz. Arethusa ließ sich so nieder, dass ihre Knie sich berührten. Verlegen verschränkte Avi die Hände auf dem Schoß. Er konnte nicht aufhören, seine Mutter anzustarren. Ihr erging es genauso.
»Deine Augen«, meinte sie. »Ich hatte ganz vergessen, wie schön sie sind. Sie wurden wirklich im Himmel erschaffen.«
»Sie fallen den Menschen auf«, erwiderte er. »Ich glaube, im Reich der Sterblichen haben sie mich verraten.«
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass du in Sicherheit bist«, fuhr sie fort. »Als ich hörte, dass du im Turm …«
»Danke, dass du gekommen bist, um mich zu befreien«, antwortete er.
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung – eine Kleinigkeit. »Erzähl mir, wie er dich gefunden hat.«
Also erklärte Avi ihr alles, angefangen bei seinem Aufwachen im Krankenhaus bis zu der Flucht über den Burggraben.
Arethusa hörte gebannt zu. Als Avi ihr von Durins Tod berichtete, wirkte sie bestürzt. Bei seiner Beschreibung der Ereignisse im Observatorium
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