Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
er.
Ein Glöckchen kündigte das Ende des Gangs an, und alle standen auf. Der Kobold verbeugte sich tief.
»Es war mir eine Freude, deine Bekanntschaft zu machen, junger Herr«, sagte er. »Und deine ebenfalls, junge Dame.«
Hannah errötete. »Ich bin keine Dame.«
»In der Tat«, verkündete Arethusa, die plötzlich hinter ihnen aufgetaucht war. »Avi, mein Lieber, ich glaube, du und deine Freundin werdet euch zum nächsten Gang zu mir gesellen.« Sie wies mit dem Kinn auf den alten Kobold. »Danke, dass du meinen Sohn unterhalten hast, Xander. Ich fürchte, wir müssen uns jetzt verabschieden.«
»Es war mir ein Vergnügen, Königin«, murmelte er.
Als sie den Tisch verließen, stellte Avi fest, dass einige Höflinge ihn beobachteten. Eine koboldhafte Frau in einem Kleid, das aus sternförmigen Pailletten bestand, hob einen Fächer vor ihr hübsches Gesicht und wandte sich ihrer nicht minder schönen Feenfreundin zu. Die beiden tuschelten, so dass Avi nur einen Teil verstehen konnten.
»… ob Iphigenia Bescheid weiß …«
Im nächsten Moment legte seine Mutter ihm die Hand auf die Schulter und schob ihn zu seinem neuen Platz. Hannah trottete hinterher.
»Ich war nicht sicher, ob ich Gelegenheit bekommen würde, bei dir zu sitzen«, sagte Avi und beobachtete, wie ein Kellner dickflüssige Sahne über einen Berg aus Kuchenteilchen goss, der schwankend mitten auf dem Tisch stand.
»Ich muss doch wenigstens einen Teil dieses Abends mit meinem Sohn verbringen«, erwiderte Arethusa. »Später werden noch Reden gehalten, und ich werde dich offiziell zu Hause willkommen heißen.« Avi verzog das Gesicht. Seine Mutter lächelte. »Keine Sorge, du brauchst nichts zu sagen.«
»Ist Avi wirklich ein Prinz?«, fragte Hannah.
»Ich hätte gedacht, das sei offensichtlich«, entgegnete Arethusa mit einem gefrorenen Lächeln.
»Aber das spielt weiter keine Rolle«, wandte Avi hastig ein.
»Findest du?«, gab seine Mutter in scharfem Ton zurück.
Obwohl am Tisch Besteckgeklapper und Geplauder zu hören waren, hatte Avi das Gefühl, dass plötzlich Totenstille herrschte.
Sie nahmen sich von dem Kuchen, der leicht und süß war. Zu seiner Überraschung bemerkte Avi, dass er noch Hunger hatte. Seine Befürchtung, er könnte seine Mutter verärgert haben, legte sich, als sie sich zu ihm hinüberbeugte.
»Ich habe noch ein Geschenk für dich«, flüsterte sie. »Um dir zu zeigen, wie sehr ich dich liebe. Vielleicht wirst du mich dann auch lieben können.«
Sie hielt ein winziges Buch in der Handfläche. Vorsichtig griff Avi danach und überlegte, ob es wohl wie ein gewisses anderes Buch irgendeinen Zauber enthielt. Als er es aufschlug, entdeckte er, dass es voller winziger Zeichnungen auf hauchdünnen Seiten war, die so durchscheinend waren wie Zwiebelhaut. Während Arethusa ihn betrachtete, wirkte ihre Haut dunkler denn je.
»Ansichten des Flusses«, stellte Avi fest, während er das Buch durchblätterte. Hier war eine Abbildung der London Bridge, da eine Skizze des Palastes, in dem sie sich befanden. Alles war meisterlich ausgeführt.
»Kellen hat es mir vor vielen Jahren geschenkt. Die Zeichnungen sind von ihm. Er war nicht immer so wie heute. Als wir uns trennten, konnte ich einige seiner Sachen einfach nicht hergeben. Das hier war eine davon. Doch da du nun zu mir zurückgekehrt bist, bin ich bereit, es loszulassen.«
Avi musterte das Büchlein. Die Zeichnungen waren wunderhübsch. Warum also machten sie ihn traurig? »Was ist zwischen Kellen und dir vorgefallen?«
»Viele Dinge. Du warst eines davon, Avi. Levi ein anderes. Als Kellen Levi zu Fugit brachte und ihn von ihm verwandeln ließ, habe ich endlich erkannt, dass unsere gemeinsame Zeit vorbei war.«
»Kellen war zornig, weil du mich geboren hast, richtig?« Eigentlich war das nicht die Frage, die Avi hatte stellen wollen. Wenn Kellen nicht mein Vater ist, wer dann?, waren die Worte, die ihm auf der Zunge lagen. Doch er konnte sie nicht aussprechen. Nicht hier und jetzt.
Sie legte die Hand auf seine. »Ich dachte, er wäre für immer fort«, sagte sie, »und würde niemals wiederkehren. Doch er kam zurück.« Sie zog die Hand weg, und ihre Züge verspannten sich. »Inzwischen hat Kellen weiteres Unheil angerichtet, das ich ihm nicht verzeihen kann und für das er büßen wird.«
»Ich glaube, er hat schon gebüßt«, meinte Hannah.
Arethusa sah Hannah an. »Was willst du damit sagen?«
»Sie spielt darauf an, dass er ins Wasser gefallen ist«,
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