Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
redeten.
»Wenigstens hat einer von uns seine Mutter wiedergefunden.« Avi bereute die Worte, sobald er sie ausgesprochen hatte.
»Ich freue mich wirklich für dich, Avi. Aber es ist nicht das Gleiche.«
»Sie ist meine Mutter.«
»Du brauchst dich nicht gleich angegriffen zu fühlen. Schließlich weißt du genau, was ich meine. Wir haben doch schon darüber gesprochen. Was weißt du über sie, Avi? Über deine Kindheit? Was bedeutet dir diese Frau? Liebst du sie wirklich?«
Avi zog das Erinnerungsbuch, das er inzwischen auf Schritt und Tritt mit sich führte, unter seiner Tunika hervor. »Ich weiß noch genug.«
»Du erinnerst dich an fast gar nichts mehr. Sei mal ehrlich. Es sind nur Worte auf Papier. Und seit Levi das verdammte Buch in die Finger gekriegt hat, sind kaum noch Seiten übrig.« Sie legte die Hand auf ihre Brust. »Ich rede von dem, was sich hier drin abspielt. Das ist die Wirklichkeit, die zählt. Avi, ich möchte nach Hause.«
»Gefällt es dir hier nicht? Du hast selbst gesagt, so etwas Schönes wie das Feenreich hättest du noch nie gesehen.«
»Stimmt. Aber ich gehöre nicht hierher.« Sie stand auf. Inzwischen weinte sie wieder und ballte die Fäuste. »Ich kann nicht bleiben. Bitte, Avi. Ich flehe dich an. Finde einen Weg, um mich wieder nach Hause zu bringen.«
»Ist dir klar, wie schwierig der Wechsel zwischen den Welten ist?«
»Ich bin sicher, dass deiner tollen Mutter etwas dazu einfällt.«
»Rede nicht so über sie.«
»Sie liebt dich nicht, Avi. Genauso wenig, wie du sie liebst. Begreifst du das nicht?«
»Am besten gehst du jetzt.«
»Wenn ich nur könnte!«
Sie stapfte davon und wirbelte dabei zornig den Schnee auf. Als sie im Labyrinth verschwunden war, ließ Avi seinen Zorn an der Eisfontäne aus. Immer wieder schlug er dagegen, dass Eissplitter spritzten und sich wie Messer in den Schnee bohrten. Dann trat er nach ihnen, bis sie in alle Richtungen flogen.
Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, setzte er sich in den Schnee und schlug sein Erinnerungsbuch auf, das sich dank Levi in einem beklagenswerten Zustand befand. Welchen Schaden er angerichtet hatte, hatte Avi erst bemerkt, als er das Buch in der Sänfte auf dem Weg vom Turm zum Westminster Palace geöffnet hatte. Wie jetzt hatte er, das Buch auf dem Schoß, dagesessen und entsetzt auf die Überreste gestarrt.
Von der ersten Seite war nur noch ein Teil übrig, der einige Zeilen enthielt.
Zweistein, Vierstein, Sechsstein, Sprung.
Dreistein, Fünfstein, strammer Jung.
Achtstein, Neunstein, eins ist Schmu.
Der Rest fehlte, das Gedicht war unvollständig.
Die Worte hallten in Avis Kopf wider und wurden von einer hohen, weichen Frauenstimme gesungen. Die seiner Mutter? Er war nicht sicher. Er erinnerte sich an Kuscheln, Lachen und das sanfte Schaukeln einer Wiege, und das bittersüße Gefühl von Glück und Verlust stieg in ihm auf. Doch er konnte keine Gesichter erkennen. Der Eindruck war flüchtig, ja, nur ein Schatten. Es hätte auch eine Episode aus dem Leben eines anderen sein können.
Mein ganzes Leben ist nichts als ein Schatten.
Der Himmel war gelb und bereit, die nächste Ladung Schnee abzuwerfen. In der kalten Luft regte sich keine Brise.
Avi machte sich auf den Rückweg zum Palast. Er fragte sich, ob er Hannah schon verloren hatte oder ob die Trennung noch bevorstand.
Als er aus dem Labyrinth kam, blickte er zu dem Balkon hinauf, wo noch immer der alte Kobold stand. Er schaute Avi direkt in die Augen.
Plötzlich erschien Tyrian und marschierte durch die Kristalltür auf den Balkon. Der Kobold wirbelte zu ihm herum. Er wirkte kräftig genug, um mit seinem hageren Gegenüber fertig zu werden, stattdessen jedoch verbeugte er sich und berührte mit der Hand seine Stirn. Offenbar musste er sich einen Tadel von Tyrian gefallen lassen, worauf er durch die Tür verschwand. Bevor der Kobold den Balkon verließ, nutzte er noch eine letzte Gelegenheit, Avi in die Augen zu sehen. Dann war er fort.
Kapitel 28
I n den nächsten beiden Tagen hielt Hannah Avi auf Abstand. Sie gingen zwar weiter zusammen spazieren und küssten sich sogar dann und wann, aber es war offensichtlich, dass sie mit dem Herzen nicht bei der Sache war. Da Hannah gern allein umherschlenderte, beschäftigte Avi sich damit, den Palast zu erkunden oder in der Bibliothek zu lesen. Er entdeckte dicke Bände über die Geschichte des Feenreichs. Die Bibliothekarin, eine Geschichtsmuse namens McAnnales, erklärte ihm, dass sich die Geschichte
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