Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
um die Uhr gearbeitet.«
»Was ist mit dem Personal?«
Avi zuckte mit den Achseln. »Es wimmelt nur so von Leuten. Aber das ist wahrscheinlich normal. Allerdings habe ich den Eindruck, dass ich ihnen lästig bin. Wenn ich jemandem auf dem Flur begegne, verstummen alle Gespräche. Und ich könnte schwören, dass sie hinter meinem Rücken tuscheln.«
»Was denn?«
»Ich weiß nicht. Ich bin immer zu weit weg, um etwas zu verstehen. Allerdings habe ich ein paarmal einen Namen aufgeschnappt. Iphigenia oder so. Er kommt mir bekannt vor. So wie aus einem Traum. Doch ich kann ihn nicht einordnen. Kennst du sie?«
Brucie starrte durch das kleine Fenster auf den fallenden Schnee. »Da musst du deine Mutter fragen.«
»Das habe ich bereits. Sie behauptet, sie wisse nichts.«
Brucie drehte sich um. »Tut mir leid, Avi. Die Dinge sind hier ziemlich kompliziert. Arethusa kann sich nicht nur um dich kümmern. Das klingt zwar nicht sehr schön, lässt sich jedoch nicht ändern.«
Avi legte die Hand auf ihre winzige Schulter. Plötzlich musste er an Hannahs Mutter denken. Habe ich sie wirklich geheilt? Aber als er Brucie berührte, geschah nichts.
Es funktioniert nur in der Welt der Sterblichen.
»Ich dachte, wir wären Freunde, Brucie«, sagte er.
»Sind wir auch. Und wir werden es immer sein. Doch hier ist alles anders.«
»Was soll das heißen?«
»Das wirst du schon noch sehen. Versprich mir nur eines – wenn du einen Weg findest, zu verschwinden, nimm mich mit.«
»Ich schwöre. Bei dir klingt das, als wäre ich ein Gefangener.«
»Wie ich bereits sagte, Avi – hier ist alles anders.«
Avi hatte sich mit Hannah am Brunnen im Labyrinth verabredet. Das Labyrinth befand sich unter einer Reihe von Balkonen an der Ostseite des großen Saals und war eine wahre Herausforderung, da die Hecken dreimal täglich – morgens, mittags und abends – ihre Wurzeln aus dem Boden zogen und die Plätze wechselten. Laut Aussage der Gärtner wiederholten sich die Muster niemals. Avi war da nicht so sicher.
Es dauerte nicht lange, dem Grundriss des heutigen Morgens auf die Spur zu kommen. Da das Labyrinth aus Spielerei, nicht aus Böswilligkeit angelegt worden war, war es schwierig, sich tatsächlich darin zu verirren. Als Avi hineinging, schlug die Uhr in dem kleinen Turm auf dem Palast (der zu seiner Freude wie sein großer Bruder in der Welt der Sterblichen Saint Stephen’s Tower hieß) gerade zehn. Keine Viertelstunde später hatte er den Brunnen erreicht.
Hannah war bereits dort und saß auf dem Brunnenrand. Die Fontäne war zu einer riesigen Wolke aus Eis gefroren. Avi fand, dass sie wie eine gewaltige Glasrose aussah.
Avi nahm eine Handvoll Schnee und schlich sich von hinten an Hannah an. Sobald sie ihn bemerkt hatte, stieß er einen Schrei aus und stürzte sich auf sie. Doch bevor er den Schneeball werfen konnte, hielt er inne.
»Was ist los?«, fragte er. »Du hast ja geweint.«
Rasch wischte sie sich die Tränen von den Wangen. »Es ist nichts«, erwiderte sie. »Alles in Ordnung.«
Avi ließ den Schneeball fallen, setzte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern. »Nein, ist es nicht. Sag mir, was los ist.«
Seufzend wollte Hannah die Finger in den Brunnen tauchen. Als sie auf Eis stieß, schien sie kurz verwirrt und lächelte dann traurig. Es war eine reizende, arglose Geste, die Avi sehr ans Herz ging.
»Ich vermisse meine Mutter«, antwortete sie. »Das ist der Grund. Seit dem Tag im Krankenhaus habe ich sie nicht mehr gesehen. Ich muss wissen, ob sie wieder gesund ist.«
Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen? »Wenn du, was meine … Fähigkeiten angeht, recht hattest, ist sie es bestimmt.«
»Ja, aber das ist nicht das Einzige. Avi, es ist jetzt schon Monate her. Falls sie wirklich gesund ist, ist sie inzwischen zu Hause und fragt sich, wo ich bin. Bestimmt denkt sie, dass ich abgehauen bin.«
»Das bist du doch nicht.«
»Und woher soll sie das wissen?«
Als er sie an sich zog, schmiegte sie sich, anders als sonst, nicht an ihn.
Auf den Balkonen kamen und gingen die Feen. Auf einem Balkon stand ein einsamer alter und verrunzelter Kobold und blickte in den Schnee hinaus. Er sah aus wie derjenige, mit dem sie sich bei dem Bankett unterhalten hatten, doch aus der Ferne war das schwer festzustellen. Vielleicht wartete er ja auf jemanden. Avi fragte sich, wie viele geheime Schäferstündchen sich wohl auf diesen Balkonen abspielten und ob die Leute dort oben über ihn
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