Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
des Feenreichs zum Großteil mit der der sterblichen Welt deckte, allerdings mit einigen kleinen Abweichungen.
»Zum Beispiel«, meinte sie, »lassen die Bücher der Sterblichen unter den Tisch fallen, dass die Wikinger aufgrund ihrer Trolle so erfolgreich waren. Die Eingeborenen hatten so etwas nämlich noch nie gesehen.«
»Ich glaube, ich kenne deine Schwester McNemosyne«, sagte Avi.
McAnnales schnaubte verächtlich. »Tja, du darfst nicht vergessen«, verkündete die Bibliothekarin, »dass ich viel objektiver bin. Die Geschichte sagt uns, was tatsächlich geschehen ist, nicht, wie wir es deuten. Das Gedächtnis hingegen ist zuweilen trügerisch.«
»Davon kann ich ein Lied singen«, entgegnete Avi.
Die Atmosphäre im Palast hatte sich verändert, und die fröhliche Stimmung beim Bankett schien in eine andere Welt zu gehören. Inzwischen wurde Avi auf Schritt und Tritt von argwöhnischen und mitleidigen Blicken aus Feenaugen verfolgt, so dass er sich fühlte wie damals im Krankenhaus: ein Objekt der Neugier für Ärzte und Schwestern.
Am fünften Morgen erschien Hannah nicht zum Frühstück. Avi wartete im Speisesaal und zerpflückte ein frisches warmes Brot aus der Palastbäckerei, allerdings ohne etwas zu essen, bis die Uhr neun schlug und er es nicht mehr aushielt. Also eilte er zu ihrem Zimmer und klopfte an die Tür.
»Hannah, willst du jetzt frühstücken oder nicht?«
Keine Reaktion. Als er das Ohr an die Tür legte, hörte er ein Schluchzen.
»Hannah!« Er rüttelte an der Türklinke, aber es war abgeschlossen. »Hannah, lass mich rein!«
»Wenn du möchtest, dass ich rauskomme, weißt du, was du zu tun hast!«, rief sie.
»Das ist ja Wahnsinn«, protestierte er. »Selbst wenn meine Mutter dir helfen könnte, verstehe ich nicht …«
»Dich hat sie doch auch weggeschickt. Warum soll das bei mir nicht klappen?«
»Schon gut … ich brauche nur ein bisschen mehr Zeit.«
»Ich glaube, du brauchst eher ein bisschen mehr Rückgrat.«
»Ich habe keine Angst vor meiner Mutter.«
»Dann sag ihr, sie soll mich nach Hause schicken.«
Danach weigerte sie sich, weiter mit ihm zu sprechen, obwohl Avi weiter heftig an die Tür klopfte. Zornig marschierte er ziellos durch die Flure und bog, den Kopf gesenkt, um eine Ecke nach der anderen, bis er sich in einer von Arethusas Kunstgalerien wiederfand.
Er schlenderte zwischen den Statuen umher. Sämtliche Bewohner des Feenreichs waren hier dargestellt: Nymphen, Zwerge, Kobolde und Goblins. Avi fragte sich, zu welcher Gruppe er wohl gehörte.
Die Sonne ging auf, und ihre hellen Strahlen vertrieben seine Wut. Warum will sie nicht hierbleiben?, dachte er, während seine Hand über den marmornen Umhang einer in Stein gemeißelten Baumnymphe glitt. Wie soll ich es ohne sie aushalten?
Im nächsten Moment wurde ihm klar, dass er tatsächlich Angst hatte, weil er wusste, was er tun musste.
Als er die Gemächer seiner Mutter erreichte, hatte seine Entschlossenheit bereits ein wenig nachgelassen. Die Hand am Klingelseil, blieb er stehen und lauschte. Von drinnen waren Stimmen zu hören, was hieß, dass seine Mutter Besuch hatte. Avi hatte bereits die bittere Erfahrung gemacht, dass Arethusa es gar nicht mochte, wenn man sie in solchen Fällen störte.
Also spazierte er den Flur entlang zum Fenster, wo Efeu den Rahmen überwucherte und sich in einem dicken Bogen bis zum nächsten Fenster und darüber hinaus spannte.
Dieses nächste Fenster gehörte zum Gemach seiner Mutter. Stimmen wehten heraus.
War ich als kleiner Junge eigentlich oft ungezogen?, fragte er sich.
Das Fensterbrett war rutschig und vereist. Avi griff mit beiden Händen in den Efeu, schwang sich hinaus, kletterte zum Fenster seiner Mutter und spähte in den Raum.
Seine Mutter stand nur einen knappen Meter entfernt, kehrte Avi aber zum Glück den Rücken zu, so dass sie ihn nicht bemerkte. Ihr Besucher war ein verrunzelter Kobold – Xander.
»Du kannst nicht die Stimmen der Mehrheit überhören«, sagte der Kobold hin und her gehend. Trotz seines Alters bewegte er sich geschmeidig. »Früher oder später wirst du nachgeben müssen.«
»Wir leben hier nicht in einer Demokratie, Xander«, entgegnete Arethusa. »Ich bin deine Herrscherin, und du tätest gut daran, das nicht zu vergessen.«
»Selbstverständlich, meine Königin.« Xander verbeugte sich tief. »Aber willst du als gütige Monarchin nicht das Beste für deine Untertanen?«
»Komm auf den Punkt.«
Xander seufzte und
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