Die Geheimnisse des Nicholas Flamel - Die silberne Magierin: Band 6 (German Edition)
»Zieh!«
Prometheus’ kräftige Arme wurden noch dicker, als er Shakespeare nach oben zog und in Sicherheit brachte.
Der Ast knackte erneut, dann ein lautes Krachen. Er brach.
Palamedes sprang und erwischte Wills rechten Fuß in dem Moment, als der Ast vom Stamm gerissen wurde. Da hing der Ritter nun und schaukelte sacht hin und her.
Prometheus ächzte unter dem zusätzlichen Gewicht. Die Ranke glitt ihm durch die Hände, riss die Haut auf, bis das rohe Fleisch zu sehen war. Dann begann sie sich aufzudröseln. Der Ältere brüllte seine hilflose Wut hinaus.
»Will«, begann Palamedes und blickte nach oben, »ich muss loslassen …«
»Nein!« Der Dichter hatte Tränen in den Augen. »Nein, bitte …«
»Wenn ich es nicht tue, sterben wir beide. Und das muss nicht sein.«
»Warte …«, flüsterte Shakespeare. »Warte …«
»Es war mir eine Ehre, dein Freund sein zu dürfen …«
»Nein!«
»Wenn das alles vorbei ist, denkst du vielleicht wieder ans Schreiben. Denk dir eine gute Rolle für mich aus. Mach mich wahrhaft unsterblich. Auf Wiedersehen, Will.« Der sarazenische Ritter ließ los.
Es zischte und ein Lasso aus Ranken wickelte sich in dem Moment, in dem er die Hände öffnete, um seine Brust. Plötzlich regneten jede Menge Fasern und Ranken auf Johanna und Saint-Germain, auf Will und Palamedes herunter. Wie ein riesiges Spinnennetz hüllten sie die vier ein, fingen sie auf und hielten sie. Dann zogen die Ranken sie hoch und setzten sie etwas unsanft auf dem breiten Ast ab, wo sie in Sicherheit waren. Die Ranken schlängelten sich davon und verschwanden im Baum. Die kleine Gruppe blieb zitternd, aber lebendig zurück.
Am Ende des Astes tauchten zwei Gestalten auf.
»Jetzt gibt’s Ärger«, murmelte Prometheus. »Sie ist bestimmt nicht glücklich.« Er konzentrierte sich auf seine Handflächen und zog Holzsplitter aus dem harten Fleisch.
Einzelheiten waren in dem grünlichen Licht schwer zu erkennen, doch eine der Gestalten war groß und breitschultrig und steckte von Kopf bis Fuß in einer Rüstung aus Glas und Metall. Aus dem kunstvoll gefertigten Helm blitzten leuchtend blaue Augen. Die andere Gestalt war eine Frau mittleren Alters mit pechschwarzer Haut und dichtem, schneeweißem Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel. Ihre glänzende Tunika schimmerte bei jedem Schritt grün und golden.
Sie marschierte auf Prometheus zu, stemmte die Hände in die Hüften und stampfte wütend mit dem Fuß auf. »Du bist in meinen Baum gekracht. Schon wieder.«
»Es tut mir leid, Mistress. Wir hatten ein Riesenproblem.«
»Du hast meinen Baum beschädigt. Es wird Ewigkeiten dauern, bis die Wunde verheilt ist.« Sie senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Dieses Mal hast du sogar Äste abgebrochen. Das wird ihm gar nicht gefallen.«
»Ich werde mich entschuldigen. Vielmals. Und den Wurzeln ein Opfer bringen.«
»Das mag helfen. Sieh zu, dass das Opfer entsprechend ausfällt. Es muss schon etwas Großes sein. Und Knochen müssen dabei sein. Er liebt Knochen.« Die Frau blickte sich um. »Dann sind sie also endlich gekommen. Abraham hatte wieder mal recht. Obwohl er von einem Zusammenstoß mit meinem Baum nichts gesagt hat.« Sie blickte alle der Reihe nach an. »Sie sehen allesamt verdächtig aus. Vor allem die hier.« Sie zeigte mit dem Finger auf Scathach, beugte sich dann vor und schnupperte. »Kenne ich dich?«
»Noch nicht, aber du wirst mich kennenlernen.«
Die Frau schnupperte erneut. »Ich kenne deine Mutter.« Noch ein Schnuppern. »Und deinen Bruder, diesen Tunichtgut.«
Johanna trat zwischen die beiden Frauen. »Prometheus, du vergisst deine gute Erziehung. Willst du uns nicht bekannt machen?«
»Selbstverständlich. Meine Damen und Herren, darf ich vorstellen: Hekate vom Älteren Geschlecht, die Göttin mit den drei Gesichtern.« Die Frau verneigte sich liebenswürdig. Ihr Kleid leuchtete smaragdgrün. »Und Huitzilopochtli, der große Held.«
»Mars«, flüsterte Scathach ehrfürchtig.
»Den Namen kenn ich nicht«, knurrte der Krieger.
»Bald wirst du ihn kennen«, murmelte sie.
KAPITEL FÜNFZEHN
N icholas und Perenelle Flamel saßen nebeneinander auf Metallstühlen vor dem Hard Rock Café am Eingang zum Pier 39. Obwohl es gerade mal 19 Uhr war und die Sonne erst in eineinhalb Stunden unterging, hatte der Nebel dafür gesorgt, dass es vorzeitig Nacht wurde. Über allem lag ein kaltes, feuchtes, düsteres Grau und die Sichtweite betrug nur noch wenige Meter. Auf
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