Die geheimnißvolle Insel
gebraucht habe, um von der Insel Tabor nach der Insel Lincoln zu gelangen?
– Das ist nicht unbedingt unmöglich, meinte der Reporter. Konnte sie nicht schon lange in dem Gewässer um die Insel treiben?
– Nein, erwiderte Pencroff, denn sie schwamm ja noch. Man kann nicht einmal annehmen, daß sie vielleicht mehr oder weniger lange Zeit auch auf dem Ufer gelegen habe, denn von dort würde sie die Fluth bald weggespült und an den benachbarten Klippen der Küste zerschellt haben.
– Wirklich, so ist es, antwortete Cyrus Smith, der träumerisch seinen Gedanken nachhing.
– Und endlich, fuhr der Seemann fort, wenn das Document mehrere Jahre alt und ebenso in der Flasche eingeschlossen wäre, müßte es durch die Feuchtigkeit gelitten haben. Davon sahen wir aber nichts, im Gegentheil befand es sich im besten Zustande.«
Der Gedankengang des Seemannes erschien vollständig richtig; auch hier standen sie also einer unerklärbaren Thatsache gegenüber, da das Schriftstück noch sehr jungen Datums zu sein schien, als es gefunden wurde. Uebrigens enthielt es die genauen Angaben von Länge und Breite der Insel Tabor, was ziemlich eingehende Kenntnisse seitens des Verfassers in der Hydrographie voraussetzte, die ein einfacher Seemann nicht wohl haben konnte.
»Hierunter verbirgt sich wieder ein undurchsichtiges Geheimniß, sagte der Ingenieur, doch auch deshalb wollen wir unseren neuen Genossen nicht etwa zum Sprechen veranlassen. Wenn er es einst selbst will, werden wir bereit sein, ihn anzuhören.«
Auch im Laufe der folgenden Tage sprach der Unbekannte kein Wort und verließ niemals die Grenzen des Plateaus. Er bearbeitete, ohne einen Augenblick zu versäumen oder sich eine Minute Erholung zu gönnen, den Erdboden, aber stets in gemessener Entfernung von den Andern. Auch zur Stunde der Mahlzeiten verfügte er sich trotz wiederholter Aufforderung niemals nach dem Granithause, sondern begnügte sich damit, einige rohe Gemüse zu verzehren. Selbst mit anbrechender Nacht suchte er das ihm angewiesene Zimmer nicht auf, sondern lagerte sich unter einer Baumgruppe oder verbarg sich bei schlechtem Wetter in einer Aushöhlung der Felsen.
So lebte er also auf dieselbe Art weiter, wie zur Zeit, als er auf der Insel Tabor kein anderes Obdach kannte, als die Wälder, und da alle Versuche, ihn zu einer Aenderung seiner Lebensweise zu veranlassen, vergeblich blieben, so ergaben sich die Colonisten darein, geduldig zu warten. Endlich aber kam der Augenblick, wo er von seinem Gewissen unwiderstehlich und unwillkürlich gedrängt, einige schreckliche Geständnisse machte.
Am 10. November gegen acht Uhr Abends, als schon die Dunkelheit hereinbrach, näherte sich der Unbekannte plötzlich und unerwartet den Colonisten, die in der Veranda versammelt saßen. Seine Augen sprühten Feuer und seine ganze Erscheinung hatte die ursprüngliche Wildheit wieder angenommen.
Cyrus Smith und seine Genossen waren auf das Höchste erstaunt, als sie sahen, wie seine Zähne, ähnlich wie bei einem fiebernden Kranken, in auffallendster Erregung klapperten. Was mochte ihm fehlen? Wurde ihm der Anblick der Menschen unerträglich? Hatte er das Leben unter ehrlicher Gesellschaft wieder überdrüssig? Erfaßte ihn eine Art Heimweh nach seinem verwilderten Zustande? Man hätte es wohl glauben mögen, als er folgende unzusammenhängende Sätze herausstieß:
»Warum bin ich hier? … Mit welchem Rechte habt Ihr mich meinem Eilande entführt? … Kann es ein Band geben, das uns umschlänge? … Wißt Ihr, wer ich bin? … Was ich gethan habe, … warum ich da unten war … allein? Und wer sagt Euch, daß man mich dort nicht absichtlich verlassen hat … daß ich nicht verdammt war, dort zu sterben? … Kennt Ihr meine Vergangenheit? … Wißt Ihr denn, ob ich nicht vielleicht gestohlen, oder gar gemordet habe? … Ob ich nicht ein Schurke bin … ein Verfluchter … gut genug, um wie ein wildes Thier zu leben … fern von Allen … sprecht … wißt Ihr das? …«
»Wer sind Sie?« (S. 427.)
Ohne ihn zu unterbrechen lauschten die Colonisten seinen Worten, als ihm diese halben Geständnisse wider Willen entfuhren. Cyrus Smith wollte ihn beruhigen, indem er sich ihm näherte, doch Jener wich scheu und schnell zurück.
»Nein! Nein! sagte er Ein einzig Wort … bin ich frei?
Pencroff’s Jubel über das gelungene Werk. (S. 436)
– Sie sind frei, antwortete der Ingenieur.
– Dann lebt wohl!« rief er und entfloh wie ein
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