Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
ums Leben gekommen wäre, dessen genaue Identität nicht ermittelt werden konnte. Er hatte mit einer dreißig Jahre jüngeren Einheimischen in einer großen Villa, die sie auf ihren Namen gekauft hatte, zusammengelebt. Sie kannte aber nur seinen Vornamen und Papiere wurden nicht gefunden. Sein Foto wurde in einer Tageszeitung veröffentlicht. Als mein Bekannter mir die zerknitterte Seite mit den Konterfeis von Vermissten oder polizeilich Gesuchten gab, erkannte ich Pete sofort. Trotz der längeren Haare und des grauen Vollbartes und der geschlossenen Augen. Also diesmal nicht am Gitter stranguliert, sondern bei einem ominösen Autounfall tödlich verunglückt.
Er teilte damit das Schicksal von Hans Hölzel, besser bekannt als Falco, dem österreichischen „weißen Rapper“, mit dem Unterschied, dass zu dessen Grab in Wien täglich Dutzende Menschen pilgern, von meinem Großcousin blieb nicht einmal der Name, geschweige denn ein Grab mit öffentlichem Interesse. Vielleicht gibt es doch so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit.
28. Kapitel
Ich traf Tim das erste Mal in der zweiten Hälfte der 90er Jahre in einer Cafeteria der Universität in Naples. Er sah aus wie einer der vielen Assistenzprofessoren der Universität: Mitte vierzig, schlang, über 1,80 Meter groß, von der Florida-Sonne gut gebräunt, eine randlose Brille auf der Nase, einen Kugelschreiber in der Tasche des kurzärmligen Camel-Hemdes und zwei Bücher in der linken Hand. Er sprach mich an, weil er eine alte, deutschsprachige Ausgabe von Williams James „Die Vielfalt der religiösen Erfahrung“ auf meinem Tisch liegen sah. Als Anhänger des amerikanischen Pragmatismus erregte dieses sofort seine Aufmerksamkeit und Neugierde.
Er wollte wissen, ob ich deutsch sprechen würde. Ich meinte, ich hoffe es zumindest, im Unterschied zu meinem Englisch könne man dies auch wohl recht gut verstehen.“ Er lachte und stellte sich vor. Es war die viel zitierte Liebe, besser Freundschaft auf den ersten Blick. Er sprach etwas deutsch, hatte wie fast alle Amerikaner, die ich traf, einen deutschen Vorfahren. Bei ihm handelte es sich um einen Großvater mütterlicherseits aus Stuttgart. Mit meiner Einschätzung seines Berufsstandes lag ich völlig falsch, er war Hobbyphilosoph und frönte dieser intellektuellen Leidenschaft in seiner spärlichen Freizeit. Ansonsten war er ein Mann der Praxis und ein erfolgreicher obendrein. Er hatte mit dreißig Jahren schon seine erste Million gemacht. Zwar hatte er auch einmal zwei Semester Maschinenbau in London studiert, aber die meisten seiner großen technischen Kenntnisse und Fertigkeiten hatte er sich autodidaktisch angeeignet. Er konnte alles, ein Computerprogramm schreiben, einen Motor reparieren oder eine elektrische Leitung legen. Mit zweiundzwanzig hatte er zusammen mit einem Freund eine kleine Firma gegründet, sechs Jahre später hatte man schon zweihundert Mitarbeiter und drei Zweigstellen in anderen Bundesstaaten. Seine Firma stellte Spezialausrüstungen für Reisebusse und Vans her, er warb mit der deutschen Qualität seiner Produkte. Ich weiß nicht, in welcher Branche sein Großvater tätig war. Aber in der Automobilbrache war „deutsch“ immer noch ein positives Markenzeichen. Es war aber wohl weniger die Werbung als die Originalität seiner Produkte, die ihm seinen Wohlstand bescherten. Er war auch Erfinder, hatte zwölf Patente angemeldet, wenig im Vergleich zu seinem Freund und Partner Bob, der über einhundert Patente angemeldet und mehrere Dutzend seiner Ideen erfolgreich in die Praxis überführt hatte. Als er mir Bob das erste Mal vorstellte, glaubte ich, es mit einem seiner Mechaniker zu tun zu haben: ein großer Bär, hochstehende, wirre blonde Haare, lange Koteletten, die wohl aus seinen wilden Siebzigern übrig geblieben waren, große braune Teddyaugen. Er war in einen öligen blauen Overall gekleidet und hatte immer irgendein Werkzeug in der Hand, selbst wenn er private Kleidung trug. Ohne Schraubenschlüssel, Stromprüfer oder Zange wäre er nie außer Haus gegangen.
Er drückte mir die Hand, bis sie zur halben Größe geschrumpft war, offensichtlich stemmte er nachts auch noch Gewichte. Er begrüßte mich mit einem Lächeln und mit einem texanischen Akzent. Er hätte bei dem Vermögen, das er in zwanzig Jahren erworben hatte, gar nicht mehr arbeiten müssen, aber er wollte immer bauen und basteln, hätte nie still sitzen oder sich auf irgendeiner Jacht nur in der Sonne bräunen können.
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