Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
stellte ich mir einen schweren Migräneanfall vor. Vielleicht hatte ich es auch mit Spätfolgen meines Autounfalls zu tun. Ich zählte zum Schluss die Stunden bis zum Heiligen Abend. Meine Frau drängte mich, endlich einen Arzt aufzusuchen.“
„Ich verspreche dir, wenn es mir nach den Feiertagen nicht besser gehen sollte, gehe ich spätestens am nächsten Werktag zur Untersuchung.“
„Nach den Weihnachtsfeiertagen werden die Wartezimmer voll sein, du musst bestimmt stundenlang auf eine Behandlung warten. Geh doch lieber noch heute, vielleicht bekommst du Tabletten, die dir sofort helfen. Dann kannst du die Festtage wenigstens unbeschwert genießen.“
Meine Frau hatte sicher recht, ich aber anderes im Sinn. Am Morgen des 24. Dezember kam ich kaum aus dem Bett, ich war weder Arztgänger noch hielt ich viel von Chemikalien, aber ich musste diesmal nachgeben und nahm eine starke Kopfschmerztablette. Als ich dann auch noch von der angesetzten Bowle einige Gläser gekostet hatte, ging es mir besser, nach einigen weiteren Gläsern fühlte ich mich, als ob ich gleich vom Boden abheben würde. Jetzt wusste ich, warum die Menschen von Anbeginn ihrer Existenz den Traum vom Fliegen hatten. Verwirklicht haben sie ihn sicher in einem anderen Zustand.
Als die ersten Gäste gegen 15.00 Uhr klingelten, war ich kaum noch in der Lage, die Mäntel abzunehmen und an die Garderobe zu hängen. Ich veränderte diesmal den Tagesablauf, wollte gleich auf meinem neuen Instrument Weihnachtslieder zum Besten geben. Bereits bei der Intonation des ersten Weihnachtsliedes verspielte ich mich dreimal unüberhörbar. Mein Onkel verstand nicht allzu viel von Musik, hatte aber durchaus ein Gehör für falsche Töne. Er konnte sich seinen Kommentar nicht verkneifen: „Nun hast so solch ein tolles Instrument gekauft, aber im letzten Jahr klang das Lied auf deinem Elektroklavier viel besser.“ Ich riss mich zusammen und holte alles aus meinem umnebelten Gehirn, den fahrigen Fingern und meinem wunderschönen Blüthner (der an meinem scheußlichen Vortrag keine Schuld hatte) heraus. Alles, was zu diesem Zeitpunkt noch möglich war. Der Kaffee, den ich zwischendurch trank, beschleunigte den Prozess des Nüchternwerdens. Als ich nach dem Kuchenessen mit meinem obligatorischen Weihnachtsrückblick begann, war ich wieder halbwegs bei Sinnen und sprach zwar langsamer als üblich, aber doch verständlich und inhaltsvoll. An der Stelle angelangt, als es um den Abschied von Tante Martha ging, stockte ich, konnte mir nicht erklären, warum ich trotz der mir schon vertrauten Situation wieder von Rührung ergriffen wurde. Nach dem gemeinsamen Zuprosten kam die Bescherung und ich wartete gespannt auf den Vorschlag meines Neffen, Geschicklichkeits- und Kraftspiele zu spielen. Ich hatte schon mehrmals nervös auf meine Armbanduhr geschaut und je näher der Zeiger sich der ominösen Stunde näherte, je unruhiger wurde ich. Da ich meine Pflichten erfüllt, den Klaviervortrag und meine Rede beendet hatte, stürzte ich mich wieder auf die Bowle, die ich inzwischen mit drei Flaschen Weißwein aufgefüllt hatte, um meine Unruhe und Angst per Alkohol zu bändigen. Es klappte auch recht gut, nur dass ich wieder etwas unsicher durch die Wohnung lief, nahe am Torkeln. Meine Frau warf mir einen strengen und rügenden Blick zu. „Ich glaube, du hast genug von der Bowle getrunken, die anderen wollen auch noch etwas abhaben.“ Ich nickte gehorsam. Endlich kam der erwartete Einwurf meines Neffen und ich holte meine Sanduhr aus dem Arbeitszimmer. Ich wollte die gesamte Prozedur abkürzen und ließ diesmal, nachdem ich die Uhr hochgehalten hatte, keine Diskussion über das Leben und die Zeit aufkommen, sondern meinte, es wäre schön, wenn man alles mit dem heutigen Wissen noch einmal erleben könnte. Ich las laut die lateinischen Zeilen vor und drückte den Boden um einen Eichstrich nach unten, der grüne Sand, begann noch oben zu strömen. In diesem Augenblick fiel mir mein Neffe, der neben mir stand und verblüfft das Schauspiel beobachtete, in meinen Arm, er war fasziniert von dem Nach-oben-fließen und wollte mir die Sanduhr aus der Hand nehmen und sie sich wohl genauer betrachten. Durch diese ruckartige Bewegung stieß ich unabsichtlich den Boden bis zum letzten Eichstrich. Ein großer grüner Blitz war das Letzte, was ich wahrnehmen konnte.
8. Kapitel
In meinem Kopf schwirrte es wie in einem Bienenkorb. Fünfzigtausend Bienen sollen sich in den Nachtstunden in einem
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