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Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Titel: Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Tenner
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Stock befinden, erzählte mir vor Jahren ein Hobbyimker. Ich bin der Meinung, in meinem Kopf befanden sich in diesem Augenblick mehr als fünfzigtausend verschiedene Gedanken oder Gedankenansätze, dazu Emotionen in einem unentwirrbaren Knäuel. Die Neuronenbahnen müssen völlig verstopft gewesen sein. Als ich mich von meinem Doppelstockbett erhob, hatte ich diesmal nicht eine Sekunde einen Zweifel daran, dass die Sanduhr ihre Arbeit getan oder ein Wunder vollbracht hatte. Und diesmal war der Zeitraum so drastisch, dass man getrost von einem zweiten Leben sprechen konnte. Ich war dreißig Jahre jünger und erkannte mich kaum in dem runden Spiegel, der an meinem Spind hing. Es war aber diesmal kein Schreck, der mich durchfuhr, es war ein unglaubliches Hochgefühl, in Bruchteilen von Sekunden ließ ich die folgenden dreißig Jahre vor meinem geistigen Auge ablaufen. Ich konnte mich an keine größeren Krankheiten oder Unfälle erinnern. Nur Verluste im weiteren Umfeld. Und einige Schrecksekunden bei einem Überfall in Afghanistan und einige Stunden Zittern und Bangen beim Überstehen eines Hurricans in Florida. Die Menschen, die mir am nächsten standen oder in Kürze stehen würden, waren in diesen Jahrzehnten nicht in eine andere Welt, ein anderes Universum oder einfach nur im Erdreich verschwunden. Abgesehen von denen, die das biologisch Mögliche ausgeschöpft hatten. Ich wusste, es würden große Erfolge auf mich zukommen, die Enttäuschungen und Niederlagen hielten sich, soweit ich sie im Gehirn sofort abrufbar hatte, in überschaubaren Grenzen. Ich strich über meine Arme und Muskeln, es war, als ob ich auch meinen Körper erst einmal prüfen, neu kennenlernen musste; zufrieden schaute ich auf meinen Bauch, die elenden Diäten und Hungerkuren der letzten Jahre, die den Fettaufbau und die sich wölbende Kugel aufhalten sollten, aber nur von geringem Erfolg gekrönt waren, hatten für lange Zeit ein Ende. Vielleicht konnte ich sie mir diesmal beim Erreichen des problematischen Alters und mit Disziplin und bewusster Ernährung sogar ersparen. Ich schaute mich aufmerksam im Zimmer um. Natürlich, das war das Zimmer im Studentenwohnheim, das ich das erste halbe Jahr meines Studiums mit zwei anderen Kommilitonen zusammen bewohnte.
    Ich fühlte mich an meinen nur wenige Jahre (meiner neuen Zeit) zurückliegenden Armeedienst und die dortigen Betten und Kleiderschränke erinnert. Aber für zehn DDR-Mark Miete im Monat war die Unterkunft, zentralbeheizt und mit Warmwasser ausgestattet, durchaus erträglich, zumal wenn man die Wochenenden nach Hause fahren konnte. Unter meinem Bett sah ich die 7,5-kg-Kugel liegen, die mich die nächsten Jahrzehnte begleiten sollte. Irgendwie beruhigend, doch Gegenstände aus der bislang so vertrauten Zukunft bei sich zu haben. Ich stemmte sie sofort in die Höhe und wunderte mich, obwohl ich mich kräftig und gut trainiert fühlte, dass ich sie nicht so oft in die Höhe oder nach vorne strecken konnte wie dreißig Jahre später. Unter dem Bett entdeckte ich meine Turnschuhe, ich zog sie und meinen Trainingsanzug, der im Spind hing, sofort über und fuhr mit dem Fahrstuhl in die unterste Etage, lief an der Rezeption vorbei, an der ein Student, den ich nicht kannte, oder an den ich mich nicht mehr erinnern konnte, Dienst tat. „So früh schon Lauftraining?“, fragte er mich verwundert. „Es ist doch noch stockdunkel.“
    „Ich will nicht aus der Übung kommen“, antwortete ich lakonisch. Am Eingang des Wohnheimes blieb ich zunächst stehen, schaute mich um wie jemand, der von der Hexe Baba-Jaga in den Zauberwald gezaubert worden war. Dabei gab es nur schlichte Wohnhäuser, Straßenbahnschienen, ein Wartehäuschen, einen kleinen Park mit Bänken. Die Luft war eisig, man konnte den kommenden Schnee förmlich riechen. Ich lief über die Schienen zum Park hinüber und rannte wie ein junges Füllen, das man endlich nach langer Zeit aus dem Stall auf die Weide gelassen hatte. Es war unbeschreiblich, der kalte Wind rötete meine Haut, die Augen brannten, aber ich fühlte mich wie neugeboren, was ich in gewisser Weise ja auch war. Ich lief mindestens zehn oder elf Runden um den Park herum, ich keuchte, der Schweiß lief mir über das Gesicht, aber ich war einfach nur glücklich. Jugend war durch nichts zu ersetzen. Keine Erfahrung, keine Weisheit, kein Reichtum, kein Altersstarrsinn vermochten auch nur einen geringen Ersatz für Kraft, Gesundheit und Unbekümmertheit zu bieten. Nach der

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