Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
eine Lutherbibel, die seit ihrem Druck im Familienbesitz ist und einst meiner Großmutter gehörte. In diesem Buch hat Martha verschiedene Stellen angestrichen und kleine Bleistiftanmerkungen gemacht und ich fand einen vergilbten Zettel, auf dem sie sich ein Gedicht aufgeschrieben hat, das ihr offenbar besonders am Herzen gelegen hat. Ich möchte diese Zeilen vortragen. Das Gedicht lautet: Begrabe deine Toten. Begrabe deine Toten tief in dein Herz hinein, so werden sie im Leben dir lebendige Tote sein. So werden sie im Herzen stets wieder auferstehn und wie ein guter Geist mit dir durchs Leben gehn. Begrab dein eigenes Leben in andrer Herz hinein und wärest du ein Toter lebendig wirst du sein.“
Ich ließ die Worte einen Augenblick im Raume verklingen, bevor ich weitersprach. „Martha hat sich tief in mein Herz eingegraben und wird mich mein weiteres Leben begleiten, quasi als guter Geist. Ich hoffe und denke, auch in euren Herzen hat sie tiefe Spuren hinterlassen. Sie hatte, wie ihr alle wisst, kein leichtes Leben, von Krieg und Nachkriegszeit geprägt, vom frühen Verlust des Sohnes und Ehemannes überschattet. Aber sie hat nie geklagt und nie den Gott, von dem der Herr Pfarrer gerade so schön gesprochen hat, in Zweifel gezogen. Wenn es diesen Gott gibt, wird er ihr ganz sicher einen besonders schönen Platz im Paradies aussuchen. Ich möchte mich bei dir, (bei diesen Worten schaute ich zum Sarg, als ob ich das Holz durchdringen könnte) an dieser Stelle ein letztes Mal bedanken und verspreche dir, alle die dich liebten oder mochten, werden dich nie vergessen!“
Meine Frau, die sich auch über den Pfarrer maßlos geärgert, meine Hand während der Gebete fest, zu fest, gedrückt hatte und am liebsten aufgesprungen und herausgerannt wäre, lächelte mir dankbar und anerkennend zu. Der Pfarrer, der zu überrascht gewesen war, um einen Einwurf zu machen, gab dem Orgelspieler ein Zeichen und dieser spielte „So nimm denn meine Hände“. Doch als er den Choral beendet hatte, ließ ich es mir nicht nehmen, noch einmal auf den Ablauf der Feierstunde Einfluss zu nehmen. Vor dem Beginn der Feierstunde hatte ich den Orgelspieler gefragt, ob er den Titel „La Paloma“ spielen könne. Er verneinte, er spiele nur klassische Stücke und Choräle. Ich bat ihn, nach dem Ende seines Spieles, seinen Platz einnehmen zu dürfen. „Liebe Familie, liebe Trauergäste, ich möchte zum Abschluss dieser Feier ein Lied spielen, das Martha unzählige Male im Leben gehört hat, dass bei keiner unserer Feiern und Beisammensein fehlen durfte, das „La Paloma“. Mit Inbrunst spielte ich den Titel, leider aber nicht ganz fehlerfrei, meine Tante wird es mit Nachsicht gehört haben. Als wir die Kapelle verließen, stand der Pfarrer mit seiner Blechbüchse vor der Tür und wollte wahrscheinlich für die Tatsache, dass er mir erlaubt hatte, seine Arbeit zu tun, für seine Gemeinde eine Geldspende einsammeln. Ich war – so glaube ich zumindest - nie geizig, aber ich fand, die Zehntausend Euro, die meine Tante ihrer kleinen Gemeinde vermacht hatte, war eine recht noble Geste und tat der Kollekte genüge.
Ich erntete einen wenig angenehmen Blick, als ich ohne meine Brieftasche gezückt zu haben, die Kapelle verließ.
Damit konnte ich aber leben. Wichtiger war mir das Gefühl, diesmal meiner Tante einen besseren Abschied ermöglicht zu haben als beim ersten Mal. Mitunter ist es doch von Vorteil, wenn man auf Dinge wie Sterben, Tod, Trauerfeiern und oberflächliche Seelsorger geistig vorbereitet ist und einen Handlungsplan zurechtlegen kann.
Die folgenden Wochen verliefen fast wie ich sie im vergangenen Jahr, nein, in diesem Jahr (ich habe Mühe, die Zeitformen richtig zu verwenden), schon einmal erlebt hatte. Nur auf den Besuch des Fußballspieles Deutschland gegen England im November verzichtete ich diesmal. Es war ein grässliches Spiel, das Wetter passte sich dem Spiel an (oder umgekehrt) und ich hatte zwei Wochen eine starke Erkältung als Folge dieses wenig erbaulichen Abends im Olympiastadium. Natürlich überlegte ich einige Tage vor Anpfiff des Spieles, ob ich nicht doch bei einem Wettanbieter auf das Ergebnis setzen sollte. Das 2:1 für England hätte gute Quoten gebracht. Die Erfahrung des Unfalles hielt mich jedoch davon ab. Zumal ich durch die Erbschaft nun auch ohne Ausnutzung meines Zukunftswissens (oder wäre es richtiger zu sagen, meines Vergangenheitswissens ?) den Blüthner ersteigern konnte.
Um meine Erkältung kam
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