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Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)

Titel: Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Tenner
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er also, müde, unausgeschlafen, weil er in den Nächten die Bücher verschlang wie andere in modernen Zeiten die Hamburger, aber gesund und voller Hoffnung auf eine glückliche Zukunft seines Landes. Ich hätte ihn in dieser Sekunde am liebsten umarmt. Es hätte ihn wohl nicht verwundert, denn wir waren in diesen vier Monaten des Zimmerteilens schon gute Freunde geworden und er hätte dies als Verabschiedungsgeste gewertet. Ich wollte die Weihnachtsfeiertage und Neujahr zu Hause verbringen. Sein Zuhause lag Tausende Kilometer entfernt. Aber nicht soweit entfernt, als dass sein Land, wenngleich einige Jahrzehnte später, die Sicherheit Deutschlands unberührt gelassen hätte. Deutschland würde eines Tages, dank weitsichtiger Sicherheitspolitiker, auch am Hindukusch verteidigt werden. Aber bis dahin würden erst mal einige Tausend Soldaten anderer Nationen und Völker für Freiheit und Sicherheit ihr Leben lassen und die anderen am Ende unverrichteter Dinge wieder abziehen. Mir fiel ein, dass ich ein Weihnachtsgeschenk für Ahmed gekauft und in meinem Schrank verstaut hatte. Ich holte das Weihnachtspaket aus meinem Spind. „Mein Zug fährt bald. Ich wollte dir noch einige schöne Weihnachtstage wünschen und habe eine Aufmerksamkeit für dich. Bitte.“ Er schwang sich aus dem oberen Teil des Doppelstockbettes, nahm den in Geschenkpapier eingewickelten Schuhkarton und begann das Paket zu öffnen. Er nestelte eine Tischuhr, einen Wollschal und ein Paar Lederhandschuhe hervor.
    Ahmed war gerührt. Man merkte es daran, wie er mehrmals an seiner Brille, die er sich aufgesetzt hatte, hin und her rückte und seine Lippen mit der Zunge benetzte. Er stellte die Gegenstände auf seinen Schreibtisch. Man spürte, wie es in seinem Kopf rumorte, er überlegte offenbar, was er sagen oder tun konnte. Mir waren die Sitten dieses so weit entfernt gelegenen Landes damals wenig, man könnte sagen, überhaupt nicht vertraut, mit Ausnahme einiger geografischer Angaben und der schwärmerischen Erzählungen, die mir Ahmed selbst über die vielfältige Landschaft seiner Heimat vermittelt hatte. Ich wusste nicht, dass er sich nach meinem Geschenk verpflichtet fühlte, mir eine Art Gegengeschenk zu machen. Er ging zu seinem Spind und holte einen Mantel aus Ziegenfell heraus. Es war ein gebrauchtes Stück, hatte auf der Rückseite einen harten, rot-braunen Fleck und ein geflicktes Loch, ich vermute, der Mantel gehörte einem Kämpfer, welcher Kriegsseite auch immer. Nachdem ihn die Kugel von hinten getroffen hatte, brauchte er den Schutz gegen die Kälte ganz sicher nicht mehr. Der Mantel war mir zwei Nummern zu klein, aber mein Taktgefühl sagte mir, dass ich dieses Geschenk auf keinen Fall ablehnen durfte. Ich zwängte mich in die Ärmel und ließ ihn vorne offen, eine Schließung der Knöpfe hätte sicher bewirkt, dass alle Schlaufen abgerissen wären. Ich setzte ein freudig-erstauntes Lächeln auf und bedankte mich herzlich. Gut, dass ich ein wenig schauspielerisches Talent besaß, diesmal half es mir einen Freund nicht zu verärgern, später mein Leben zu retten. Er umarmte mich und wünschte mir schöne Tage in Familie. Zu Hause angekommen musste ich den Mantel sofort in den Keller bringen, er hatte trotz stundenlangen Auslüftens auf dem Balkon einen strengen Geruch, der sich sofort im Schrank, im Zimmer, in der gesamten Wohnung verbreitete. Ich habe den Mantel zweimal mit einer Spezialseife in der Badewanne gewaschen, die Wanne war beim ersten Mal angefüllt mit einem Wasser in dunklem Rot, wahrscheinlich war meine Vermutung mit dem Blutfleck keineswegs abwegig gewesen. Die beiden Wäschen halfen die Größe noch mehr zu reduzieren und das Leder auf der Außenseite hart und steif zu machen, nur gegen den Geruch konnten sie nichts ausrichten. Ich wunderte mich, dass mir dieser stechende Geruch nicht schon in unserem Studentenzimmer aufgefallen war. Ahmeds Spind musste wohl luftdicht abschließen. Obwohl ich den Mantel nie getragen habe, wagte ich dennoch nicht, ihn fortzuwerfen. So offen ich sonst mit meinem Freund über alles sprechen konnte, dies hätte er sicher als eine Beleidigung empfunden. Er besuchte mich später mehrmals im Jahr in Berlin und er fragte jedes Mal nach diesem Mantel. Ich holte das gute Stück vorsichtshalber kurz vor seiner jeweiligen Ankunft aus dem Keller in die Wohnung, verstaute ihn aber luftdicht in einem Plastikkleidersack.
    Als ich 1997 die Todesnachricht erhalten hatte, musste der Mantel dann doch

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