Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
Rückkehr ins Wohnheim nahm ich eine heiße Dusche, frottierte mich ab und zog mir eine Jeans über, die mir meine Tante aus Westberlin zu meinem letzten Geburtstag geschenkt hatte. Mein Hemd sah aus, als ob ich von den Hippies übrig geblieben wäre. So etwas hatte ich also ernsthaft getragen. Stand mir eigentlich gar nicht so schlecht, obwohl ich mir dennoch beim genauen Betrachten im Spiegel ein Lächeln nicht verkneifen konnte.
Meine Zimmergenossen schliefen noch. Ich überlegte, mit wem ich es überhaupt zu tun hatte. Der Erste, der über mir sein Schlafdomizil hatte und laut schnarchte, wahrscheinlich war er erst wieder um ein Uhr ins Bett gekommen und dies mit viel Alkohol im Blut, war Martin, ein Student aus einer Kleinstadt in Mecklenburg, der wenig Interesse an Philosophie oder Sozialwissenschaften hatte, aber endlich in eine Großstadt wollte und das Studentenleben genießen. Ein ganz passabler Bursche, der, hätte er genügend Zeit gefunden sich auszutoben, mit seiner Intelligenz das Studium wohl ohne Probleme geschafft hätte. Dies sollte ihm, so fiel mir jetzt deutlich ein, nicht möglich sein. Er gehörte zu den wenigen deutschen Studenten, die lieber über Weihnachten im Wohnheim blieben als in ihre Heimatorte und zu ihren Familien zu reisen. Er nutzte die Tage bis nach Silvester zusammen mit einem Kommilitonen, um einen neuen Rekord im Dauerbiertrinken aufzustellen. Mit fatalen Folgen. In ihrem Überschwang der verwirrten Gefühle und völliger Alkoholvernebelung zogen sie grölend von der Mensa durch die Stadt und brachen an dreizehn oder vierzehn Autos die Außenspiegel ab, darunter war auch ein Fahrzeug eines Bereitschaftsarztes. Kaum im Wohnheim angelangt, wurden sie bereits von der Deutschen Volkspolizei in Gewahrsam genommen, Ende Januar erfolgte schon die Gerichtsverhandlung. Ein Vertreter unserer Seminargruppe musste an dieser Verhandlung teilnehmen und berichtete uns über den nicht einmal einstündigen Verlauf. Wegen mutwilliger Zerstörung sozialistischen Eigentums und Gefährdung von Menschenleben (warum das Arztfahrzeug ohne Außenspiegel nicht hätte zu einem Notfall fahren können, blieb mir unklar) wurden beide zu jeweils drei Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt. Eine Exmatrikulation in Folge dieser entsetzlichen Straftat verstand sich von selbst. Ich habe Martin nie wieder gesehen, aber gehört, dass er sich nach seiner Entlassung in der sogenannten Praxis bewähren musste. Er arbeitete einige Zeit unter Tage im Bergbau, erhielt dann die Chance „Bergbau“ an der Bergbauakademie in Freiberg zu studieren und soll ein erfolgreicher Ingenieur geworden sein. Ich hoffte, dass diese Erzählungen der Wahrheit entsprachen, ansonsten hätte ich schon jetzt, kaum eine Stunde im neuen (oder alten) Leben angekommen, überlegen müssen, ob ich nicht den Versuch unternehmen müsste, ihn von der folgenschweren Zechtour abzuhalten. Über die Frage des Eingreifens in das Geschehen musste ich mir ohnehin noch ernsthaft Gedanken machen. Beim Laufen im Park und Genießen meiner jugendlichen Lunge und Kräfte schien alles noch so unkompliziert und schön zu sein. Aus heutiger Sicht würde ich behaupten, es waren die glücklichsten, weil gedankenlosesten Minuten von dreißig langen Jahren.
Mir wurde jetzt bewusst, dass alles vielleicht einen anderen Verlauf nehmen würde, als ich mir dies wünschte oder in meiner Naivität vorgestellt hatte. Die gleiche Zeit, die gleiche Umgebung, die gleichen Menschen, der gleiche Körper, nur einige Gedanken und Erinnerungen im Gehirn anders und schon fühlte man sich wie in einer fremden Welt. Dieses Gefühl sollte sich im Laufe der Jahre noch verstärken. Im zweiten Doppelstockbett rekelte sich ein kleiner, schwarzköpfiger Student mit einem hellbraunen Teint, schaute mich verschlafen aus seinen dunklen, etwas schmalen und kurzsichtigen Augen an. Ahmed. Mein Kommilitone aus Afghanistan. 1992 nach dem Sturz von Nadschibullah, dessen Regierung er ab 1989 angehörte, wurde er von den Mudschaheddin in Kabul als Verräter und Ungläubiger festgenommen und 1996 von den Taliban hingerichtet. Allerdings hat man ihm das durch die Straßenschleifen, Verstümmeln und öffentliches Aufhängen an einer Laterne erspart – im Gegensatz zu seinem ehemaligen Chef. Ahmeds Frau Mariam, die ebenfalls aus Afghanistan stammte und in Leipzig studierte, 1982 heiratete beide und wir waren Hochzeitsgäste, schickte mir aus dem englischen Exil erst 1997 die Todesnachricht. Da lag
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