Die geheimnisvolle Sanduhr (German Edition)
seinen letzten Gang in die Mülltonne antreten, allerdings habe ich mir den Kragen abgetrennt, als kleine, zusätzliche Erinnerung an einen guten Freund, von dem ich viel gelernt habe und der für mein Schicksal noch einmal von besonderer Bedeutung sein sollte.
Bei der Verabschiedung von Ahmed wurde mir das erste Mal klar, warum ich am Morgen des 24. Dezember noch am Studienort weilte. Ich hatte zwar dreißig Jahre vorausgeschaut, aber zunächst nicht einmal einige Wochen oder Stunden zurück. Mir wurde etwas flau im Magen. Martin hatte tatsächlich bis 01.00 Uhr durchgemacht - mit mir. Als ich am gestrigen Morgen bei meiner Verlobten angerufen und meine Ankunft für den Nachmittag angekündigt hatte, begann sie zu schluchzen und bat um Verzeihung. Aber ich müsse Verständnis haben, dass sie nicht fünf oder noch mehr Jahre auf mich warten könne, wahrscheinlich würde ich ohnehin eine hübsche Studentin kennenlernen und dann die Verlobung lösen.
„Also, wenn ich dich recht verstehe, willst du prophylaktisch mit mir Schluss machen?“, fragte ich sie lakonisch, aber doch mit belegter Stimme. „Es ist besser für uns beide. Du kannst dich dann ganz auf dein Studium konzentrieren und musst nicht ständig nach Berlin kommen.“
„Und du kannst dich dann besser auf einen anderen Mann konzentrieren“, erwiderte ich schnippisch, wie es eigentlich ihr Part gewesen wäre.
„Es gibt keinen fremden Mann.“
Womit sie, was ich in dieser Stunde nicht ahnte, sogar die Wahrheit sagte. Es handelte sich nämlich nicht um einen Fremden, sondern um meinen besten Freund, der ihr in meiner Abwesenheit die Zeit sexuell vertrieben und vor allem einen Heiratsantrag gemacht hatte, Letzteres hatte ich nach über einjähriger Verlobungszeit schlichtweg vergessen. Manchmal kann Vergessen auch Gnade sein. In diesem Fall stimmt dieser Spruch hundertprozentig. Nach dem Telefonat war mir aber erst einmal zum Heulen zumute, aber ich gehöre noch einer Generation an, die egal, was die Psychologen und modernen Männerversteher behaupten und propagieren, niemals auch nur eine Träne verdrückt hatte (zumindest nicht im Beisein anderer).
Ich musste das Weihnachtsfest umdisponieren. Also würde ich wieder in mein altes Zimmer einziehen und das morgige Fest mit Eltern, Schwester und Großeltern, Tanten und Onkeln verbringen. Ich rief zu Hause an, teilte kurz das Ende der Beziehung mit Doris mit und kündigte mich für den Nachmittag an. Meine Mutter stellte zum Glück keine weiteren Fragen. „Wir freuen uns. Ich mach dein Zimmer fertig. Komm bitte pünktlich. Um 15.30 Uhr gibt es Kaffee und Kuchen, Oma hat wieder den Schokokuchen gebacken und Tante Martha die Plätzchen, gegen 17.00 Uhr wird beschert.“
Na wunderbar, die letzte Bescherung lag erst wenige Stunden zurück, ich kam mir langsam vor wie Phil, der Hauptdarsteller in dem Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“, der ein und denselben Tag immer und immer wieder erleben muss, bis er sich moralisch gebessert hat und ein guter Mensch geworden ist.
Ich überlegte, sollte es einen moralischen Grund für meine Sanduhr geben? Ich hatte niemandem etwas Böses getan, zumindest nicht bewusst und absichtlich, und wohin sollte ich mich entwickeln? Und wer sollte dies wollen? Die Sanduhr würde vermutlich bei jedem anderen, der sie unter den gleichen Bedingungen benutzte, auch funktionieren. Dies zu überprüfen, war mir allerdings vorerst unmöglich, denn erst in zweiundzwanzig Jahren würde ich nach Paris reisen und diese Uhr erwerben. Jetzt ging es um andere Dinge. Ich musste, wie es so schön heißt, die Vergangenheit aufarbeiten. Noch vor wenigen Stunden war ich voller Wut und Verzweiflung gewesen. Martin spürte sofort nach meiner Rückkehr ins Wohnheim, dass ich alles andere als guter Dinge war. Ich deutete ihm kurz den Grund für meine gedrückte Stimmung an. „Ärgere dich nicht. Sei froh, dass sie dir den Laufpass gegeben hat. Stell dir vor, du hättest sie geheiratet. Es lohnt sich nicht, auch nur einen Gedanken an eine solche Frau zu verschwenden. Dass mit deinem Freund ist schlimmer.“ Womit Martin recht hatte, der Bruch unser Freundschaft ließ sich nicht mehr kitten, obwohl er bereits nach zwei Jahren wieder geschieden war und ich nicht dazu neige, nachtragend zu sein. Ich habe ihn nicht wiedergesehen. An diesem 23. Dezember war aber alles sehr frisch und der Schock und die Enttäuschung saßen tief. Martin wusste Rat. „Lass uns zum Goldenen Löwen fahren, wir
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