Die Geier
Intelligenz ihrer Tochter so wenig zu
schätzen wußte.
»An ihrem achtzehnten Geburtstag ist sie abgehau-
en«, fügte die Frau nach einem kurzen Hustenanfall
hinzu. »So als hätte sie nur auf diesen Tag gewartet.«
Gaborit konnte das Mädchen gut verstehen. Be-
stimmt hatte Giova in dieser familiären Umgebung die
Tage in ihrem Kalender angekreuzt wie die Gefange-
nen, die Striche an ihre Zellenwände malen.
»Das Laboratorium, mit dem wir zusammenarbeiten,
würde Sie gern für Ihre Hilfe bei der Suche nach Giova
entschädigen«, beharrte der Chirurg.
Die Frau biß sich unentwegt auf die Unterlippe. Hab-
gier leuchtete unter den schweren Lidern hervor. Da
wurde Gaborit klar, daß sie nicht wußte, wo ihre Toch-
ter steckte, aber auch nicht auf die in Aussicht gestellte Entschädigung verzichten wollte. Sie fragte sich nur,
wie sie es anstellen sollte, sich diese Gelegenheit nicht
entgehen zu lassen.
»Wieviel bieten Sie mir?« murrte sie mit ihrer vom Al-
kohol und Tabak gekennzeichneten Stimme.
Gaborit rieb sich die Nase und begegnete ein weiteres
Mal dem mehr und mehr angeekelten Blick der Kran-
kenschwester.
»Ich denke, die Belohnung wird sich auf etwa zehn-
tausend Francs belaufen«, entgegnete er.
Sie streckte ihm ihre vom Cortison aufgeschwemmte
Hand entgegen.
»Geben Sie her!« forderte sie gierig.
»Erst wenn wir Giova gefunden haben«, erwiderte
der Arzt.
Die Frau verzog das Gesicht und warf Gaborit einen
haßerfüllten Blick zu.
»Nur ich allein kann Giova wiederfinden«, knurrte
sie. »Entweder Sie schicken das Geld, oder Sie können
sich Ihr Medikament in den Arsch stecken.«
Ihr Freund, der Mann im Unterhemd, lachte laut und
dröhnend auf.
Nervös stieg Gaborit von einem Fuß auf den anderen.
Die Krankenschwester packte ihn am Arm.
»Kommen Sie!« flüsterte sie ihm zu. »Wir haben hier
nichts mehr verloren.«
Nach einem letzten Zögern nickte Gaborit mit dem
Kopf und verließ fluchtartig, ohne sich zu verabschie-
den, das Elendsquartier der Familie Llorens.
Der Mann schloß die Tür und schenkte sich ein Glas
Wein ein, dessen Gerbstoff zahlreiche Kreise auf dem
Resopal zurückließ. Stöhnend richtete die Frau sich in
ihrem Bett auf.
»Kopfkissen!« befahl sie.
Gemächlich trank der Mann sein Glas halbleer, setzte
es auf den Tisch und wischte sich die Lippen mit dem
Handrücken ab, bevor er den Rücken der Frau mit den
Kopfkissen stützte.
»Wird Zeit, daß du deinen Arsch wieder in Bewegung
setzt, Saufbold!« knurrte sie. »Daß du die Kleine ausfin-
dig machst, und zwar schnell! Es gibt was zu verdie-
nen.«
Der Mann zuckte mit den Schultern.
»Und wo soll ich sie finden, deine blöde Tochter?«
Sie zog die Lippen über ihr zahnloses Zahnfleisch
und lachte wie verrückt.
»Als ob du das nicht selbst wüßtest, Idiot!«
Der Mann tippte sich mit den Fingerspitzen an die
Stirn.
»He, Dicke, bist du verrückt geworden? Du glaubst
wohl, ich geh zum Araber und nehm dem das Luder
weg? Um sie anschließend einem Doktor zuzuspielen!
Du willst uns wohl alle wieder in den Knast bringen, du
Schlampe?«
Einunddreißigstes Kapitel
Steve Odds hatte kaum mehr eine andere Wahl. Milan
hatte ihn in der Hand, und so problemlos wie eines
kleinen Erpressers oder neugierigen Inspektors würde
er sich seiner wohl nicht entledigen können. Kurzfristig
hatte Odds keine andere Möglichkeit, als die Forderun-
gen des Geiers zu erfüllen und ihm die wahren Gründe
für die Verteilung dieses Fahndungszettels zu erörtern.
Gewöhnlich ließ Milan sich nicht so leicht beeindruk-
ken, doch diese Neuigkeit verdutzte ihn. Alexander Sir-
chos, neben dem die Familie Rockefeller zum arrivierten
Kleinbürgertum schrumpfte, war also der große Chef
des Unternehmens, und seiner Frau sollte man das Herz
der Giova Llorens einpflanzen, ihrer genetischen Dop-
pelgängerin. Wenn diese Affäre aufflöge, wäre es mit
sämtlichen Geierorganisationen weltweit definitiv vor-
bei. Kein kleiner Fisch!
Milan strich sich das Haar nach hinten. Für eine
ganze Weile schwieg er, so sehr hatte diese Enthüllung
ihn überrascht.
»Wer weiß von der Existenz dieser Giova Llorens?«
fragte er schließlich.
Odds schüttelte den Kopf.
»Niemand ...«
»Und wie haben Sie sie entdeckt?« wollte Milan wis-
sen.
»Machen Sie sich darüber keine Sorgen«, entgegnete
Odds. »Die Sache ist geregelt.«
»Halten Sie mich für einen Idioten oder wie?« entrü-
stete sich
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