Die Geier
Ihnen bestimmt doch am ehesten.
Los, nicht aufgeben, bald haben wir's geschafft!«
Schließlich erreichten Sie die sechste Etage und stan-
den vor einer Tür, von der die Farbe abblätterte, die sich schälte wie verbrannte Haut. Einen Moment lang lehnte
die Krankenschwester sich dagegen, da sie außer Atem
war. Der starke Geruch von geröstetem Knoblauch lag
im Treppenhaus. Als der Chirurg ungeduldig wurde,
nickte die Rothaarige mit dem Kopf, trat vor und klopfte
an die Tür.
Gaborit war sichtlich erstaunt, als ein Mann die Tür
öffnete und auf die Schwelle trat. Der Kerl war nicht
wirklich fett, aber sein unförmiger Magen beulte sein
ekelhaft schmutziges Unterhemd aus. Seine wenigen
glänzenden Haare hatte er nach hinten gekämmt, und
ohne den Hühnerschenkel aus dem Mund zu nehmen,
an dem er nagte, schaute er abwechselnd die Kranken-
Schwester und den Doktor an. Die fettigen Hände
wischte er sich an der Hose ab.
»Worum geht's?« fragte er schließlich wenig freund-
lich.
»Wir würden gerne mit Madame Llorens sprechen«,
erklärte die Krankenschwester.
Mit dem langen dreckigen Nagel seines kleinen Fin-
gers stocherte sich der Mann in den Zähnen herum.
Dann fuhr er sich mit der Zunge durch die hohlen Bak-
kenzähne, was ein seltsames Schnalzen bewirkte.
Er zog die Nase hoch, betrachtete erneut die Kran-
kenschwester, wandte sich nach hinten und schrie:
»Besuch für dich, Schlampe!«
»Verpiß dich!« antwortete eine Stimme aus der Woh-
nung.
Verdutzt sah Gaborit die Krankenschwester an, die
daraufhin mit den Schultern zuckte.
»Das Luder liegt den ganzen Tag im Bett«, sagte der
Mann. »Hat anscheinend kranke Beine . . . «
Er trat zur Seite und bat die beiden in die Wohnung.
»Ich will mit niemandem sprechen!« schrie die
Stimme mit ausgeprägtem italienischen Akzent.
Die Einzimmerwohnung glich eher einer Abfallkam-
mer als einem Appartement. Verdreckte Klamotten la-
gen auf dem abgewetzten Teppich herum, auf dem Re-
sopaltisch standen Dutzende leerer Weinflaschen, aus
den Wänden sickerte die Feuchtigkeit, in der verkom-
menen Kochnische stapelten sich die Abfalltüten, der
Geruch von verfaulten Lebensmitteln, abgestandenem
Rauch und Urin erfüllte das Zimmer. Hinten in der
Ecke, in einer Nische, stand das Bett, auf dem eine Frau
lag, deren Glieder von einer schweren Polyarthritis ver-
formt waren und deren Gesicht von Cortison aufge-
schwemmt war. Es gelang ihr kaum, die Augen zu öff-
nen, und sie schien die Krankenschwester nicht wieder-
zuerkennen. Gaborit war von diesem Anblick wie vor
den Kopf gestoßen. Er erinnerte sich an das zarte Ge-
sicht der kleinen Giova. Hier konnte sie doch unmög-
lich leben. Sie doch nicht ...
»Ich bin die Krankenschwester aus dem Chaptal-Ly-
zeum«, erklärte die Rothaarige. »Wir hätten gern mit
Giova gesprochen ...«
Die Frau fluchte auf italienisch.
»Diese kleine Hure ist schuld, daß ich hier liege!«
kreischte sie. »Sie ist abgehauen, ohne es mir zu sagen,
ohne mir Geld dazulassen, nichts! Nach allem, was ich
für sie getan habe!«
Der Mann im Hintergrund kicherte. Gaborit hingegen
sah seine Hoffnungen schwinden, obwohl er gleichzei-
tig irgendwie auch erleichtert war, daß das kleine Mäd-
chen mit den Puppen diese abscheuliche Behausung
verlassen hatte.
»Warum suchen Sie sie überhaupt?« fragte Giovas
Mutter.
Der Chirurg wollte gerade von dem an Leukämie lei-
denden Kind und dessen genetischer Verbindung zu
Giova zu erzählen beginnen, als die Krankenschwester
ihn anschaute und ihn mit einem Hüsteln daran erin-
nerte, daß an einem Ort wie diesem Erklärungen ohne
finanziellen Nachdruck sinnlos waren. Gaborit zog
seine Brieftasche hervor und legte einen Hunderter auf
den Bettrand. Zweifellos war die Frau durch ihr Rheu-
ma sehr behindert, doch der Geldschein verschwand
schneller, als Gaborit schauen konnte.
»Wir haben ein neues Medikament entwickelt und
glauben, daß wir Giova damit definitiv von ihren Aller-
gien heilen können«, begann der Mediziner und ver-
zichtete mit einemmal darauf, den humanitären Aspekt
der ganzen Angelegenheit weiterhin zu bemühen.
»Soll sie doch verrecken!« krächzte die Mutter, indem
sie auf die Brieftasche schielte, die der Doktor nach wie
vor in der Hand hielt.
Plötzlich kam Wut in Gaborit auf, und er empfand
große Lust, auf das Bett zu springen und dieses ab-
scheuliche Weib zu erwürgen, diese Mutter, die die
Schönheit und
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