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Die Geisel des Löwen: Historischer Roman (German Edition)

Die Geisel des Löwen: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Geisel des Löwen: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Jordan
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Kirche wurde nur durch Kerzen so weit geheizt, dass das Weihwasser nicht gefror.
    Die Vigil, zu der die Ordensfrauen sich zwischen Mitternacht und der zweiten Stunde des neuen Tages versammelten, war wieder kein kurzes Gebet. Die Stimmen der Schwestern erhoben sich zu einer gesungenen Einladung – Amra dachte verbittert, dass dies zumindest ein Beweis dafür war, dass ihre Mitschwestern in der Nacht nicht verstummt waren. Es folgten Psalmen, die obligatorische Lesung und erneut Gesänge und Gebete. Amra konnte nicht folgen und wollte es auch nicht, sie sehnte sich zu sehr nach Schlaf.
    Als die Schwestern am frühen Morgen, noch vor dem Frühstück, wieder in die Kirche zogen, wunderte Amra sich schon nicht mehr. Sie wagte kaum, Mariana freudig zu begrüßen, die mit zwei anderen älteren Edelfrauen zur Laudes zu ihnen stieß. Schließlich schwiegen ihre Mitschwestern immer noch, wenn sie nicht gerade beteten, und so langsam ahnte sie, dass dies zu den Regeln gehörte. Auf keinen Fall wollte sie auffallen, indem sie einen weiteren Fehler machte. Womöglich strafte man sie sonst noch einmal mit Essensentzug.
    Das Frühstück bestand aus mit Wasser gemischtem Wein und hartem Brot, und während die Klosterfrauen aßen, las eine von ihnen aus der Bibel vor. Danach durften sie dann endlich wieder sprechen. Die Frauen versammelten sich im Kapitelsaal und besprachen die an diesem Tag anliegende Arbeit. Außerdem gab es zu Amras Entsetzen die Möglichkeit, Regelverstöße der Mitschwestern zu melden. Schwester Agatha erklärte auch gleich pflichteifrig, dass Amra das Schweigegebot verletzt habe. Die andere junge Ordensfrau, die das Bett neben Amra hatte, behielt ihren Verstoß gegen die Kleiderordnung dagegen für sich. Amra empfand vage Dankbarkeit, wurde aber auch für den Bruch des Schweigens nicht bestraft.
    »Schwester Anna Maria kennt unsere Regeln noch nicht«, meinte die Äbtissin. »Aber bitte, Schwester Agatha, du kannst sie ihr kurz erklären.«
    Agatha begann sofort eifrig zu erläutern, dass in diesem Konvent zwischen Komplet und Laudes sowie während der Mahlzeiten nicht gesprochen wurde. Zuwiderhandlungen wurden bestraft, was sie ebenfalls genüsslich kundtat. Zum Beispiel mit zusätzlichen Schweigegeboten oder damit, im Stehen essen zu müssen.
    Amra erinnerte das an unartige Kinder, die man zur Strafe isolierte, aber immerhin verstand sie jetzt, was von ihr erwartet wurde. Auch wenn sich ihr der Sinn der Sache nicht erschloss.
    »Es dient dazu, in sich zu gehen und sich auf das Gebet zu konzentrieren«, erläuterte später die umgängliche Schwester Gotlind.
    Die Oberin hatte ihr Amra zur Arbeit zugeteilt, und so verbrachte sie ihren ersten Tag im Kloster damit, Ordenskleider zu waschen und auszubessern. Gotlind erklärte ihr dabei auch die Abfolge der Stundengebete, die Zeiten der Mahlzeiten und die Fastenregeln der Gemeinschaft.
    »Nein, es gibt nicht nur Wasser und Brot«, beruhigte sie die neue Novizin. »Zur neunten Stunde nehmen wir die Hauptmahlzeit ein, da gibt es auch manchmal Fleisch. Allerdings enthalten wir uns des Genusses des Fleisches von vierfüßigen Tieren.«
    Amra überlegte kurz, was da überhaupt noch übrig blieb. Ihr fiel nur Geflügel und Fisch ein, aber das genügte ihr vollkommen. Sie würde allerdings dem Hund die Sache mit der Wurst erklären müssen …
    Beim Essen lernte Amra dann ihre ersten Worte in der klosterüblichen Gebärdensprache: Man bat um Käse, indem man die Hände aufeinander presste, um Fisch mittels einer Schwimmbewegung. Warum all das Gott wohlgefälliger sein sollte, als einfach die Stimme zu benutzen, begriff sie allerdings nicht. Hatte sie das Orakel des Svantevit, die Freifläche vor seinem Tempel und die Gesänge der Priester früher wirklich befremdlich gefunden?
    Als Agatha sie auch am nächsten Morgen wegen einer Kleinigkeit anschwärzte, überdachte Amra sogar ihre Einstellung zu Menschenopfern …
    Die Maxime der Benediktinerinnen war Ora et labora – Bete und arbeite. Jede Ordensschwester hatte ihre Aufgabe, doch auch hier gab es eine durch Reichtum beeinflusste Hierarchie der jeweiligen Betätigung. Die reich begüterten Kanonissen taten nahezu nichts, was über die Beschäftigungen weltlicher Edelfrauen hinausging. Sie bestickten Altartücher und Priestergewänder, schmückten die Kirche mit Blumen und Kerzen und sorgten sich darum, dass der Priester und Beichtvater, der die Messe las, Altar und Sakristei in geordnetem und gepflegtem Zustand

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