Die Geisel des Löwen: Historischer Roman (German Edition)
die Männer genauer in Augenschein nehmen. Ihr Ausdruck verriet allerdings nichts, sie saßen ins Gebet vertieft mit Pribislav an exponierter Stelle und boten anschließend an, gemeinsam noch eine Totenmesse für Fürst Niklot zu lesen. Amra wappnete sich für weitere Stunden auf der Betbank. Sie würde nicht wagen, sich zu entfernen, bevor sich die Männer zum Bankett im Palas zurückzogen. In der letzten Zeit hatte sie den Messgang ein wenig vernachlässigt. Es würde Monate dauern, bis die fünftausend Totenmessen gelesen waren, die Pribislav auf Anraten des Bischofs für seinen Bruder zu zahlen gedachte.
Außer den Frauen, den Klerikern und Pribislav blieben nur noch wenige Ritter in der Kirche, aber einer von ihnen, ein dunkelhaariger Jüngling, hatte schon zur Abendmesse unauffällig hinter Amra Platz genommen. Die junge Frau fuhr zusammen, als er ihr plötzlich etwas zuraunte.
»Ich muss mit Euch sprechen, Frau Amra«, flüsterte der Ritter. »Still, rührt Euch nicht, hört nur zu.«
Amra nickte fast unmerklich. Die erste Totenmesse las der asketische Kleriker aus Braunschweig, zum Glück mit lauter, klingender Stimme. Das Wispern des jungen Ritters ging darin unter. Amra erkannte jetzt auch die Stimme des Jünglings. Rudolf von Wismar, der Schwarm aller jungen Mädchen in den Frauengemächern. Herr Rudolf zeichnete sich bei den Leibesertüchtigungen der Ritter nicht sonderlich aus, er saß jedoch elegant zu Pferde, und vor allem spielte er die Laute und schmiedete Verse. Jede von Relanas kleinen Hofdamen wäre sofort mit ihm davongelaufen.
»Ich habe Herrn Magnus heute gesehen«, flüsterte der Ritter. »Ihr müsst wissen, ich bin ihm sehr verbunden, er … er hat mich zum Ritter geschlagen.«
Und bei der Vorbereitung darauf wohl beide Augen zugedrückt, vermutete Amra. Aber sie war jetzt alarmiert. Was mochte der junge Troubadour zu sagen haben?
»Als die Wache abgelöst wurde, habe ich mich in den Turm geschlichen. Einer der Büttel hat so getan, als sähe er mich nicht. Den dauert der Herr Magnus wohl auch …«
Amra lächelte in sich hinein. Was Bestechung war, schien diesem treuherzigen jungen Edelmann völlig fremd zu sein.
»… und so konnte ich mit ihm sprechen.«
»Und?«, wisperte Amra ungeduldig. Wenn der Ritter nicht bald zur Sache kam, würde die Totenmesse gelesen sein. »Wie geht es ihm?«
»Er sendet Euch Grüße«, meinte Rudolf. »Und ich soll Euch sagen, dass Euch all seine Gedanken gelten und all seine Liebe Euch gehört.«
Die Nachricht erfüllte Amra mit einem warmen, tröstlichen Gefühl. Ob sie es wert war, dafür das Risiko einzugehen, mit ihr hier in der Kapelle zu sprechen? Ihr selbst konnte nicht viel passieren, aber der junge Herr Rudolf hatte wahrscheinlich ohnehin nur wenige Fürsprecher am Hof.
»Ich danke Euch. Und wie sieht es jetzt mit der Verhandlung aus?«, fragte sie. »Habt Ihr schon etwas gehört? Wie lässt es sich an mit den Richtern? Sind sie auf seiner Seite?«
»Der Sachse sicher nicht«, murmelte Herr Rudolf, »dem Herrn Heinrich ist es egal, ob Herr Magnus hängt. Und der andere, der Däne … Nun, er hat Herrn Magnus heute besucht und ihm die Beichte abgenommen.«
»Und? Wird er für ihn stimmen?« Amra tat, als wische sie sich Tränen aus den Augen und versteckte sich hinter ihrem Schleier.
»Er hat ihm einen Ausweg genannt«, meinte Rudolf. »Magnus wird … er wird morgen versuchen, sich dem Urteil des Tribunals zu entziehen, indem er ein Gottesurteil fordert.«
»Ein was?« Amra erschrak so, dass sie beinahe vergessen hätte, die Stimme zu senken. »Das … da muss man doch einen Ring aus kochendem Wasser ziehen oder ein glühendes Stück Eisen durch die Kirche tragen. Oder man wird in einen See geworfen, darf nicht schwimmen und trotzdem nicht ertrinken …«
»Letzteres ist eine Hexenprobe«, stellte Rudolf richtig. »Und ja, man ist schuldig, wenn man schwimmt. Aber sonst … bei Rittern sieht das Gottesurteil eher einen Zweikampf vor. Wenn die Richter zustimmen, wird Magnus gegen einen von Pribislavs Männern antreten.«
Amra atmete auf. »Das ist doch gut«, flüsterte sie. »Er kann ihn schlagen, und dann ist er frei. Doch wird der Fürst sich da nicht querstellen? Mir hat er gesagt, er möchte ihn hängen sehen.«
Rudolf seufzte leise. »Dem Fürsten ist es egal. Er mag eine Hinrichtung vorziehen, aber letztlich kommt es aufs Gleiche heraus. Magnus hat keine Chance, Frau Amra. Vor einem Monat hätte er den Mann vielleicht schlagen
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