Die Geisel des Löwen: Historischer Roman (German Edition)
vor dem Allerheiligsten des Gottes gab es eine Freifläche, die in ihrer Ruhe fast gespenstisch wirkte. Unmut regte sich ob dieser Platzvergeudung unter den Fischern und Handwerkern – auch ob des Umstands, dass Vaclav den Geflüchteten nur Teile des verwaisten Königspalas’ zugänglich gemacht hatte. König Tetzlav war wie von Baruch angekündigt zwei Tage zuvor abgeritten. Ohne seinen Hofstaat, lediglich mit seiner Gattin, seinen Konkubinen und seinen Rittern. Die Menschen, die auf die Burg flüchteten, hatten ihn gar nicht mehr zu Gesicht bekommen.
Die Diener und das Küchenpersonal des Königs waren dadurch allerdings keineswegs arbeitslos. Im Gegenteil, sie kochten und backten täglich viele Stunden, um die Menge der Geflüchteten zu versorgen, und Amra und andere junge Frauen übernahmen die Verteilung der Speisen. Dabei herrschte bislang noch kein Mangel an Nahrung, und es gab auch keinen großen Ansturm auf die Küche. Für die ersten Tage hatten sich die Menschen selbst Verpflegung mitgebracht.
»Wird es denn lange dauern, bis sie abziehen?« Ein Schmied aus Puttgarden händigte einem der Priester eben ein paar Münzen aus, um das Orakel zu befragen.
Amra empfand Verärgerung. Es war nicht richtig, dass die Priester Geld aus der Not der Menschen zogen. Aber das Orakel genoss bei vielen Bürgern hohes Ansehen, seit die »Prophezeiung des Tempels« eingetroffen war, dass ein feindliches Heer im Anzug auf die Burg war. Die Priester hatten Boten mit dieser Nachricht an die Dorfvorsteher geschickt, um die Menschen auf die Burg zu holen. Amra fragte sich, ob der König es bewusst unterlassen hatte, die Leute zu warnen oder ob Vaclav das schlicht vergessen oder gedankenlos den Priestern überlassen hatte. Muris jedenfalls schlug seinen Vorteil daraus: Viele einfache Menschen meinten, dem Gott und seinen Priestern ihre Rettung zu verdanken, als die Dänen dann tatsächlich landeten. Und nun, da sie mit der Belagerung begonnen hatten, erhofften sich die Leute vom Orakel Aufschluss über die Ernsthaftigkeit und die Dauer der Bedrohung und zahlten dafür mit klingender Münze.
»Sie werden gehen, wenn wir die Kraft finden, sie zu besiegen!«, erklärte Muris, und Amra dachte, dass er den Orakelspruch offenhielt wie üblich. »Die Kraft und den Glauben!«, fügte er hinzu – wobei er dem eben vorbeigehenden Fischer Admir, Ortsvorsteher von Vitt, einen schneidenden Blick zuwarf.
Admir gehörte zu den Männern, die der Volksversammlung vorstanden. Er hatte am Tag zuvor energisch den Palas des Königsdomizils für die Volksvertreter requiriert. Falls die Dänen verhandeln wollten, würden sie auf ihrem Mitspracherecht bestehen. Und weder Admir noch die anderen Ortsvorsteher hatten bislang Anstalten gemacht, das Orakel in irgendeiner Weise zurate zu ziehen.
Amra folgte dem Volksvertreter zu einem der Wachtürme. Sie musste dort ohnehin Brot abliefern, und vielleicht gelang es ihr ja, im Gefolge Admirs die Erlaubnis zu erhalten, auf den Turm zu steigen und einen Blick auf die Armee der Dänen zu werfen. Die Besatzer waren in der Nacht zuvor eingetroffen, und Gerüchten zufolge waren sie überaus zahlreich.
Admir grüßte die junge Frau freundlich, als sie beinahe gleichzeitig die Wachstube betraten. Einer der Büttel war anwesend, der andere bewachte das Tor, das offensichtlich noch nicht verriegelt war.
»Ist das nötig?«, fragte Admir streng und wies auf den jungen Wächter. »Sollten die Tore nicht verriegelt und vernagelt werden und von den Zinnen des Walls aus verteidigt?«
Der ältere Wächter nickte. »Sicher. Aber wir warten noch. Es gibt immer noch Flüchtende, die hereinwollen.«
»Jetzt noch?«, wunderte sich Amra. »Aber da draußen wimmelt es doch von Feinden …«
Der Mann zuckte die Schultern. »Eben das Gewimmel bietet Möglichkeiten. Im Morgengrauen haben wir heute noch zwei Köhlerburschen eingelassen. Arme Schweine, kein Mensch hat sie benachrichtigt. Als sie Lärm hörten und das heranmarschierende Heer erkannten, haben sie sich im Wald versteckt. Aber die verfluchten Dänen haben ja gleich angefangen, Holz zu schlagen. Wollen wohl Rammböcke bauen oder so was – als ob sie damit unsere Wälle durchschlagen könnten …«
Der Mann blickte stolz über die massiven Erdwälle. Belagerungsmaschinen waren hier sicher nutzlos.
»Sie brauchen wohl auch mehr Platz, wenn das Heer so groß ist, wie es heißt«, brummte Admir.
Der Wächter hob erneut die Schultern. »Kannst gern auf den Turm
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