Die Geisel
schaute ihr nach. »Ich würde mir das Buch gerne ausleihen!«, rief sie. »Um nachzuschauen, ob ich nicht doch irgendeinen Sinn darin entdecke.«
Ohne sich umzudrehen hielt Katrine das Buch in die Luft und schwenkte es hin und her.
41
Durch das offene Schlafzimmerfenster hörte sie das Zirpen der Zikaden. Maja saß mit Sørens Peter-Pan -Exemplar an ihrem Frisiertisch. Sie trug ein Paar Latexhandschuhe, um nicht noch mehr Fingerabdrücke zu hinterlassen. Katrine hatte in ihrer rasenden Wut auf Søren schon genug im Buch hinterlassen. Neben dem Tisch stand ein großer Ventilator, trotzdem herrschten im Schlafzimmer tropische Verhältnisse.
Sie hatte die Seite acht aufgeschlagen und betrachtete die Zeichnung, die Søren als Karte von Timmies Gedanken bezeichnet hatte. Die Seite war vollständig übermalt, die Zeichnung war offenbar in einem wilden Akt auf das Papier geworfen. Es war ein einziges verschnörkeltes Muster, ohne die Symbole und Figuren, die in den anderen Zeichnungen zu finden waren. Maja hatte nicht die geringste Ahnung, wie ihr diese Seite einen Hinweis auf Timmies Versteck geben sollte.
Sie holte ihre eigene Peter-Pan -Ausgabe und las noch einmal den Abschnitt über das Zeichnen von Gedanken. Zeichnungen wurden als Landkarte über die Wunschinseln der Kinder beschrieben. Die Inseln enthielten Träume und Fantasien. Es waren farbenfrohe Orte voller Abenteuer, wo alles möglich war. Der Kontrast zwischen den Karten, die im Buch beschrieben wurden, und denen, die Søren gezeichnet hatte, konnte nicht größer sein. Es schien ihr sehr unwahrscheinlich, dass Timmie oder einer der anderen Jungen irgendwelche Zeichnungen in dem Buch hinterlassen hatten. Sie mussten ausschließlich von Søren stammen. Es waren seine Gedanken. Seine Fantasien. Seine verfinsterte Wunschinsel.
Søren hatte gesagt, Timmie befinde sich beim Felsen der Verlassenen in der Lagune der Meerjungfrauen. Das war die Stelle im Buch, in der Peter und Wendy, von den Gezeiten gefangen, auf einem einsamen Felsen festsaßen. Der einzige Ort, dachte Maja, der einigermaßen dazu passte, war die Bucht. Aber die war von der Polizei schon mehrfach erfolglos abgesucht worden.
Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Der Ventilator kühlte angenehm ihren Nacken und ließ ihr einen leichten Schauer über den Rücken laufen. Morgen wollte sie wieder in der Praxis anfangen. Dort konnte sie die Seiten kopieren, ehe sie Katrine das Buch zurückgab. Maja dachte, dass sicher auch Claus und die anderen Psychologen, die Søren begutachteten, daran interessiert waren. Am meisten freute sie sich darauf, mit Claus über das Buch zu reden. Er war ihr einziger momentaner Lichtpunkt. Sie gähnte. Die Tuschzeichnungen flimmerten ihr vor den Augen. Mehr als alles andere erinnerten sie an ein tiefes, schwarzes Loch. War das vielleicht Sørens Nachricht? Dass Timmie sich in einer unendlichen Tiefe befand, ohne Hoffnung, jemals gerettet zu werden? Der schwarze Fleck starrte sie an wie ein böses Auge. Sie schlug das Buch zu.
Maja zog sich aus und betrachtete sich im Spiegel. Ihrem Bauch sah man immer noch die Schwangerschaft an. Im Grunde sah sie so aus, als stehe sie am Beginn einer Schwangerschaft. Sie legte sich aufs Bett. Obwohl sie müde war, konnte sie keinen Schlaf finden. Sie dachte an ihre erste Begegnung mit Søren auf dem Gefängnishof. Es quälte sie, dass sie die Beherrschung verloren hatte. Auch wenn sie allen Grund dazu gehabt hatte, hätte sie ihn nicht ohrfeigen dürfen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt jemanden geschlagen hatte, und bildete sich ein, dies wäre nie zuvor geschehen. Sie selbst war nur ein einziges Mal geschlagen worden. Sie wusste nicht mehr, warum ihre Mutter das getan hatte. Das war unmittelbar nach der Scheidung ihrer Eltern gewesen. Sie waren beide verletzt und frustriert darüber gewesen, dass ihr Vater von zu Hause ausgezogen war. Später war ihnen die Szene so peinlich gewesen, dass sie nie mehr darüber gesprochen hatten. Maja war sich ganz sicher, dass ihre Mutter alles abstreiten würde, wenn sie sie heute, nach all den Jahren, damit konfrontieren würde.
Katrine war anders. Sie wusste, dass man physische Gewalt einsetzen konnte, um bestimmte Ziele zu erreichen. Woher sie dieses Wissen hatte, wusste Maja nicht. So war Katrine schon immer gewesen, die Anführerin, die den Schulhof mit harter Hand regiert hatte. Jetzt war sie eine Polizistin, die Grenzen überschritt, um bestimmte Ergebnisse zu erzielen.
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