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Die Geisel

Titel: Die Geisel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Katz Krefeld
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Doch im Vernehmungsraum war etwas Unvorhergesehenes geschehen. Søren hatte sie ausgespielt und ihre Überreaktion provoziert. Er hatte Macht über sie gehabt und ihre Schwäche aufgedeckt. Aber warum hatte Katrine so unbeherrscht auf seine Behauptung reagiert, als Kind missbraucht worden zu sein? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass dies tatsächlich der Fall gewesen war. Dennoch musste Maja daran denken, dass Søren vermutlich eine besondere Fähigkeit entwickelt hatte, gewisse Signale bei Kindern und Erwachsenen wahrzunehmen.
    Sie wusste nur wenig über ihre ehemalige Mitschülerin, doch sie kannte die Statistiken. Im Durchschnitt waren zwei Schüler in jeder Grundschulklasse irgendeiner Form gewalttätiger Übergriffe ausgesetzt. Warum sollte das nicht auch für ihre Klasse gegolten haben? Wenn die Rückkehr an den Ort ihrer Kindheit sie irgendwas gelehrt hatte, dann die Tatsache, dass eine sorglose Kindheit nichts weiter als eine Illusion ist.
     
    Das grelle Deckenlicht in der Sicherheitsverwahrung schmerzte in Sørens Augen. Selbst wenn er sie schloss, schien die Glühbirne durch seine Lider zu dringen und seine Pupillen zu verbrennen. Man hatte ihn auf der Pritsche fixiert. Es bestand keine Möglichkeit, dem Licht zu entkommen oder die Decke über den Kopf zu ziehen. Er war vollkommen wehrlos und hatte das Gefühl, von einer glühenden Sonne langsam geröstet zu werden. Genauso wurden die Bleichgesichter in Nimmerland von den Rothäuten gefoltert. Tigerlilly hatte Wort gehalten. Er musste bei grellem Licht in Isolationshaft bleiben, bis sie wiederkam. Natürlich konnte sie nicht wissen, dass dies keine Strafe für ihn war. Es bedeutete nur eine kleine Pause, bis sie mit seinen Glanzbildchen zurückkommen würde. Hätte sie gewusst, wie groß seine Freude war, die Bilder wiederzusehen, hätte sie sie ihm bestimmt nicht gezeigt. Der kurze Blick war die gebrochene Nase absolut wert gewesen. Nun lag er auf einer Pritsche und wartete auf ihre Rückkehr.
    Die Bilder waren seine Kriegsbeute. Vor vielen Jahren hatte er sie Käpt’n Hook abgejagt. Sie waren von unschätzbarem Wert, und er hatte sie seitdem gehütet wie seinen Augapfel. Darum war es jedes Mal ein Opfer für ihn, wenn er eines von ihnen weggab. Doch er wusste, dass man mit seinen Freunden teilen musste und nicht egoistisch sein durfte. Die verlorenen Jungen teilten ja so vieles mit ihm. Plötzlich konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen. Sie glaubte sicher, er würde ihr früher oder später erzählen, wo Timmie war - im Tausch gegen die Bilder. Aber das war nicht der Fall. Nach Lage der Dinge waren sowohl Timmie als auch die Bilder in Sicherheit. Und solange sie wiederkam, um ihm mit den Bildern vor der Nase herumzuwedeln, hatte er keine Eile. Arme Tigerlilly, arme kleine Katrine. Jemand hätte sie längst nach Nimmerland mitnehmen sollen. Jetzt war sie in ihrem eigenen Elend gefangen. Genau wie er, wenn er nicht mit den verlorenen Jungen nach Nimmerland reiste.
    Das Licht erlosch, und die Dunkelheit traf ihn wie eine Mauer. Sein Zeitgefühl hatte sehr gelitten, er meinte aber dennoch, dass es früh am Morgen war. Hatte sie schon aufgegeben? War seine Strafe vorüber?
    Er lauschte ins Dunkel. Vor der Zellentür war ein Geräusch. Im nächsten Augenblick wurde ein Schlüssel im Schloss gedreht und der Riegel mit einem Knall zur Seite geschoben. Doch niemand trat ein. Stattdessen verhallten die Schritte auf dem Gang. Er hob den Kopf vom Kissen und blickte zur Tür. Seine Augen hatten sich immer noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt, und so konnte er nichts erkennen. Warum hatten sie seine Tür aufgeschlossen? Wollten sie ihn freilassen? Er knirschte mit den Zähnen. Vielleicht hatte Glöckchen etwas damit zu tun. Er lachte. Vielleicht hatte sie Feenstaub in alle Gefängnisschlösser gestreut und sie aufspringen lassen. Er musste jetzt nur noch auf den Gang hinausgehen und weiter auf den Gefängnishof gelangen. Von dort aus konnte er ungehindert über den Tivoli hinwegfliegen, und die Kinder würden ihm zuwinken. Er würde am Rathausturm vorbeisegeln und Kurs auf Timmie halten. Es prickelte in seinem Bauch, wenn er an Timmies marmorweißen Fuß dachte. Wie hübsch er in der Nacht geleuchtet hatte. Gemeinsam würden sie nach Nimmerland fliegen und für immer dort bleiben.
    Søren versuchte sich aufzurichten, aber die Riemen hielten ihn fest. Feen kann man nichts Wichtiges anvertrauen, rief er sich in Erinnerung. Glöckchen musste kommen und ihn

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