Die Geisel
viele, die unifarbene T-Shirts, Tücher oder Barette trugen, die ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Abteilung der Bürgerwehr demonstrierten.
Hendriksen schloss zu Maja und Stig auf. »Ich habe gerade mit dem Vorsitzenden der Hausbesitzergemeinschaft von Skovly gesprochen. Die sind ja viel zahlreicher als wir, also hat er mir versprochen, uns mit seinen Leuten auszuhelfen, wenn Not am Mann ist.«
»Das ist ja fantastisch«, entgegnete Stig und nahm die Fackel in die andere Hand.
»Wir haben auch über einen Selbstverteidigungskurs gesprochen. Ich dachte, das könntest du vielleicht übernehmen, Stig.«
Stig lächelte. »Leider nein. Dafür sind meine Kenntnisse nicht groß genug. Aber ich würde gern teilnehmen.«
»Wir werden sehen«, entgegnete Hendriksen und verschwand wieder in der Menge.
Maja blickte zu Stig auf und drückte ihn an sich. »Mein kleiner Bruce Lee«, spottete sie.
»Man tut, was man kann. Diese Hände können töten«, entgegnete er lachend und führte einen imaginären Handkantenschlag aus.
Nach einer halben Stunde hatte der Zug den kleinen Platz vor dem Rathaus erreicht. Der flackernde Schein der vielen Fackeln verlieh der Szenerie eine dramatische Atmosphäre. Maja konnte sich nicht erinnern, wann sich zuletzt so viele Menschen hier versammelt hatten. Ihre Mutter und die übrigen Frauen aus der Gymnastikgruppe begannen Liedtexte auszuteilen. Nach einigem Hin und Her, wer das Kommando übernehmen sollte, setzte sich ihre Mutter durch und stimmte mit gellender Stimme das Lied »Umgeben von Feinden« an. Die Stimmen stiegen ohnmächtig die dunkle Rathausfassade hinauf.
Maja betrachtete die Menschen um sie herum. Ängstlich und klein sahen sie im Dunkeln aus. Sie erblickte Jeanette und Annbrit, die ein Stück entfernt standen und sich an ihre Ehemänner klammerten. Und sie musterte die Kinder, die an diesem Abend unter dem Schutz der gesamten Stadt standen. Sie nickte Skouboe zu, als sie seinen Blick in der Menge auffing. Er stand neben Alice und ihren beiden erwachsenen Töchtern und sang.
Brüder und Schwestern,
das ist unser Schwur,
wir wollen gut sein
zu Mensch und Natur.
Schönheit und Wärme
wollen wir bewahren,
als trügen wir ein Kind
auf unseren Armen …
Als das Lied beendet war, wurde es totenstill auf dem Platz. Nur das lodernde Geräusch der Fackeln im Wind war zu hören. Maja fixierte den leeren Springbrunnen, das Wahrzeichen der Stadt. Um während der Hitzeperiode Wasser zu sparen, hatte man ihn bereits vor Monaten abgestellt. Stattdessen warfen die Passanten ihren Abfall ins leere Becken, so dass es inzwischen einem riesigen Mülleimer glich. Es war wahrlich kein Ruhmesblatt für die Behörden, dass sie nicht einmal ein so kleines Problem vor der eigenen Haustür in den Griff bekamen. Und wenn es nicht einen einzigen Lokalpolitiker gab, der den Mut hatte, an einem Abend wie diesem das Wort zu ergreifen und die Bevölkerung zu beruhigen, an wen sollten sich die Leute dann überhaupt wenden? Wenn sich nur ein paar Männer mittleren Alters, die grüne Shirts und eine Trillerpfeife um den Hals trugen, für die allgemeine Sicherheit zuständig fühlten, dann konnte einem um die Zukunft der Stadt angst und bange werden.
In knapp drei Monaten würde Walnuss auf die Welt kommen. Wenn ihr Familienprojekt gelingen sollte, war es wichtig, die Idylle ihrer Kindheit wiederherzustellen. Möglicherweise war die Postkarte nichts als ein geschmackloser Scherz gewesen, doch konnte auch etwas anderes dahinterstecken. Unter allen Umständen musste sie sich davon frei machen. Für einen Moment überlegte sie, ob sie die Karte nicht in den Brunnen zu all den Pizzakartons und Bierflaschen werfen sollte, ging dann aber zu Skouboe hinüber.
Sie begrüßte seine Töchter und umarmte Alice.
»Eine schöne Veranstaltung«, sagte Alice.
Maja nickte. »Ja, in so einer Situation muss man zusammenhalten.«
Sie wandte sich an Skouboe. »Dieser alte Kommilitone von dir …«
Skouboe nickte. »Was ist mit ihm?«
»Könntest du ihn mir vielleicht mal vorstellen?«
Skouboe lächelte.
Es war an der Zeit, den Mann zu besuchen, der sich mit gewissen Verhaltensmustern auskannte.
11
Die sexualmedizinische Abteilung war ein Teil der Psychiatrie und in den niedrigen Pavillons in größtmöglicher Entfernung zum Hauptgebäude untergebracht. Die sich sanft im Wind wiegenden Weiden verliehen dem Ort ein friedliches Ambiente. Der Gang über den Parkplatz hatte Maja bereits riesige
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