Die Geisel
Wohnort.«
Stig schnaubte verächtlich. »Du denkst an die Leute hier? Die ziehen doch bei der erstbesten Gelegenheit den Schwanz ein.«
»Da bin ich mir nicht so sicher. Aber ich denke auch nicht an diese Leute.«
»An wen dann?«
Maja blickte ihm tief in die Augen. »An den Jungen, der bald Geburtstag hat.«
Stig warf die Hände in die Luft. »Die Polizei hat doch eine Warnmeldung herausgegeben. Das haben die Leute dir zu verdanken. Mehr kannst du nicht tun.«
»Trotzdem, wir können nicht einfach abhauen, Stig.« Sie beugte sich zu ihm hinunter und umarmte ihn. »Das ist unser Zuhause, unsere Stadt. Wenn wir uns nicht solidarisch erklären, wer soll es dann tun. Er hat nicht gesagt, dass er mich als Nächstes holen will. Es geht um einen kleinen Jungen, der nicht weiß, dass er in Gefahr schwebt. Wenn ich dazu beitragen kann, ihn zu retten, dann muss ich das tun.«
Er versuchte, sich aus ihrer Umarmung zu befreien, doch sie hielt ihn fest. »Wir sind zusammen dafür verantwortlich.« Sie küsste ihn auf die Haare.
Stig nickte wehmütig. »Okay, dann warten wir also einfach ab, bis er das nächste Mal zuschlägt.«
»Sie werden ihn bestimmt vorher schnappen. Ich habe Katrines Blick gesehen. Die ist wild entschlossen. Und vielleicht geben all die Proben, die sie von mir genommen haben, ja irgendeinen Aufschluss.«
Stig nickte und lächelte schließlich. »Ja, vielleicht. Jedenfalls hoffe ich, dass Jakob mit diesem Scheißdings hier klarkommt.« Er zeigte auf das Zubehör der Alarmanlage. »Sonst haben wir echt ein Problem.«
Maja zauste sein Haar. »Ihr schafft das schon.«
Maja ging hinauf ins Schlafzimmer im ersten Stock. Sie öffnete den Kleiderschrank und steckte die Hand zwischen die Kleider, die auf ihren Bügeln hingen. Sie freute sich auf den Tag, an dem sie wieder passen würden. Aus der Tiefe des Schrankes zog sie ihre Arzttasche hervor. Sie sah aus wie die alte Tasche einer Hebamme, das Leder hatte eine hübsche Patina. Seit ihrer Zeit in Norwegen, als sie auch Hausbesuche gemacht hatte, hatte Maja sie nicht mehr benutzt. Sie stellte die Tasche auf das Bett und schloss sie auf. Ein Geruch von Lederfett und Medizin stieg ihr in die Nase. Im vordersten Fach fand sie eine kleine Schachtel. Darin war ein subkutaner Injektor. Er glich einem vergrößerten Kugelschreiber, besaß eine Kammer für Ampullen und eine feste Kanüle mit Federvorrichtung. Normalerweise wurden solche Spritzen von Diabetikern verwendet. Doch in Norwegen hatte sie sie zur Selbstverteidigung benutzt und die Insulinampulle gegen eine Morphinlösung ausgetauscht. Als sie dort überfallen worden war, hatte sie nicht gezögert, diese Waffe auch einzusetzen. Von ihrer Zeit in Norwegen hatte sie immer noch Alpträume.
Diesmal wollte sie jedoch kein Morphium benutzen. Stattdessen wollte sie den Injektor mit Naloxon laden, das eine Art Gegengift zu den Substanzen war, die Pan benutzt hatte. Ein ehemaliger Kollege aus der Notaufnahme hatte ihr eine Liste derjenigen Präparate gemailt, die man ihren Proben bisher hatte entnehmen können. Sie hatten sowohl Spuren von GHB als auch von Rohypnol und Morphium nachweisen können. Doch wussten sie immer noch nicht, welche Substanz ihre Lähmungserscheinungen hervorgerufen hatte. Die Chance, sich selbst eine Spritze setzen zu können, ehe Pans Gift seine Wirkung entfaltete, war gering, aber besser als nichts. Bevor sie die Tasche wieder schloss, nahm sie das Skalpell zur Hand, das sie seit ihrer Studienzeit begleitete. Sie tauschte die Klinge aus und legte sie neben den Injektor. Pan sollte sie nicht noch einmal überraschen. Eines stand jedoch noch aus: Wenn sie ihren Peiniger schon nicht erkannt hatte, musste sie jedenfalls wissen, wie er dachte.
Maja hatte unter dem Sonnenschirm auf der Dachterrasse des Hochhauses Zuflucht gesucht. Die Terrasse teilten sie sich zwar mit den anderen Firmen des Gebäudes, doch selbst in der Mittagszeit war Maja die Einzige, die sie benutzte. Die anderen hielten sich lieber in ihren klimatisierten Büros auf - ein Luxus, den Majas Praxis nicht zu bieten hatte. Dafür wehte hier oben ein angenehmer Wind, und man hatte einen herrlichen Ausblick über die Stadt, deren Dächer in der Hitze flimmerten.
»Was liest du da?«
Maja blickte von ihrem Buch auf. Skouboe hatte der Sonne den Rücken zugekehrt. Maja musste ihre Augen beschirmen, um besser sehen zu können.
»Peter Pan«, antwortete sie und hielt das Buch in die Höhe.
»Der wird hier gerade zum
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