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Die Geisel

Titel: Die Geisel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Katz Krefeld
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zwischen den beiden Zügen eingeklemmt, die aus dem Bahnsteig einen schmalen Korridor machten. Es war das erste Mal an diesem Abend, dass zwei Züge fast gleichzeitig gekommen waren. In ihrem Ohr knatterte es. Sie konnte nur Bruchstücke des hektischen Gesprächs zwischen den Einheiten verstehen. Von versperrter Sicht und gestörter Verbindung war die Rede. Alle fielen einander ins Wort.
    Für einen kurzen Moment wurde sie von einem grellen Licht geblendet. Sie sah sich nach Zivilbeamten um, spähte in den ersten Wagen, der völlig leer war. Sie blickte am Zug entlang. Im nächsten Wagen saß ein älterer Mann und schlief mit dem Gesicht an der Scheibe. Erneut traf sie ein Lichtstrahl direkt ins Gesicht. Diesmal blieb er dort und nahm ihr die Sicht. Sie hielt sich schützend die Hand vor die Augen. In diesem Moment bewegte sich der Lichtstrahl, wanderte über ihre Brust zu ihrem Bauch und verharrte dort. Sie starrte am Bahnsteig entlang, ohne die Lichtquelle zu finden. Das Licht musste von einer sehr starken Taschenlampe stammen. Sie fragte sich, ob einer der Beamten versuchte, mit ihr Kontakt aufzunehmen, weil die Funkverbindung gestört war. Sie hielt sich den Ärmel an den Mund. Es wirkte verrückt, auf diese Weise in ein Mikrofon zu sprechen. »Hier ist Maja … Ich werde von einem hellen Licht geblendet. Es kommt vom Ende des Bahnsteigs … Wisst ihr, wer das ist?« Sie wartete auf eine Antwort, hörte aber nur statisches Rauschen.
    Die Signaltöne beider Züge gellten durch die Nacht. Im nächsten Augenblick schlossen sich die Türen, worauf sich die Räder in Bewegung setzten. Die Wände, die von den Zügen gebildet worden waren, rollten in verschiedene Richtungen davon, und das Bild, das sie freigaben, ließ Maja den Atem stocken.
    Der Zug zu ihrer Rechten glitt am Bahnsteig entlang, während seine Frontscheinwerfer die Umgebung in ein helles Licht tauchten. Zwischen den Gleisen befand sich ein kleiner Materialschuppen. Die Tür stand offen, und vor dem Schuppen stand eine dunkle Gestalt in einem Monteuranzug. Das flackernde Licht der vorbeirauschenden Wagen ließ den Mann aufleuchten. Es war Søren. Er lächelte sie an. In der einen Hand hielt er eine Taschenlampe, in der anderen Timmies blaue Schultasche. Er winkte sie mit der Taschenlampe zu sich heran.
    Erschrocken öffnete sie den Mund und versuchte zu begreifen, wie er der Polizei hatte entgehen können. Er musste sich hier versteckt haben, bevor die ersten Einsatzkräfte vor Ort gewesen waren. Vermutlich war er den kleinen Trampelpfad hinter der Böschung entlanggegangen, um zu dem Schuppen zu gelangen, und hatte genau auf diesen Augenblick gewartet, um Kontakt mit ihr aufzunehmen.
    Sie hob den Arm und rief etwas ins Mikrofon. »Søren … Søren ist am Ende des Bahnsteigs …« Das statische Rauschen war schwächer geworden, doch niemand antwortete ihr.
    Der letzte Wagen rollte am Schuppen vorbei. Erneut lag das gesamte Gelände im Dunkeln. Søren hatte seine Taschenlampe ausgeknipst. Sie wusste nicht, ob er immer noch da stand. Ein weiteres Mal sprach sie ins Mikrofon. Ein weiteres Mal erhielt sie keine Antwort.
    Timmie war nirgends zu sehen gewesen, doch konnte sie nicht ausschließen, dass er sich im Schuppen hinter Søren befand. Wollte er ihn wirklich freilassen? Ohne selbst eine Chance zur Flucht zu haben? Das wirkte verdächtig. Langsam ging sie den Bahnsteig hinunter, ohne genau zu wissen, was sie tun sollte.
    Die Oberleitung begann erneut zu singen. In wenigen Augenblicken würde der Regionalzug vorbeidonnern. Doch der hohe Gesang ergab plötzlich einen Sinn. Søren wollte gar nicht flüchten. Im Gegenteil. Er wollte für immer hier bleiben. Mit seinem eigenen und Timmies Tod würde sich der Kreis schließen. Er hatte seine Mordserie damit begonnen, den kleinen Lasse vor den Zug zu stoßen. Und hier sollte seine mörderische Tour de Force ihr Ende finden. Vor den Augen eines Publikums, das er selbst eingeladen hatte. Hand in Hand würden Timmie und er über die Planke gehen.
    Sie blickte zur Bahnhofsuhr, die über ihr leuchtete wie ein falscher Mond. Es war fast Mitternacht. Der Sekundenzeiger wanderte gemächlich über die Scheibe. Gleich würde er die Zwölf hinter sich lassen. Dann wäre Timmies Geburtstag vorbei. Sie hatte eingewilligt, ihn vorzuverlegen. Und Timmies kurzes Leben noch kürzer zu machen.
    Sie drehte sich zum Kassenhäuschen um, das circa dreißig Meter hinter ihr in der Nähe des Eingangs lag. »Katrine!«, rief sie. »Er

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