Die Geisha - Memoirs of a Geisha
und hielt sie an den Flügeln auf einem Stein fest, wo wir uns alle versammelten, um zu besprechen, wie wir sie umbringen sollten. Die Biene war schuld daran, daß ich starke Schmerzen hatte, deswegen war ich ihr alles andere als freundlich gesonnen. Doch das Wissen, daß sich dieses winzige, zappelnde Wesen vor dem unmittelbar bevorstehenden Tod nicht retten konnte, verursachte mir ein schreckliches Gefühl der Schwäche in der Brust. Das gleiche Mitleid empfand ich jetzt auch mit Hatsumomo. An den Abenden, an denen wir ihr durch Gion folgten, bis sie, nur um uns zu entkommen, in die Okiya zurückkehrte, hatte ich nahezu das Gefühl, daß wir sie folterten.
Wie dem auch sei, an jenem Abend überquerten wir gegen neun Uhr die Brücke zum Pontocho-Viertel. Anders als Gion, das sich über viele Häuserblocks erstreckt, besteht Pontocho aus einer einzigen langen Gasse, die sich am Flußufer entlangzieht. Wegen dieser Form wird es von den Leuten auch häufig als »Schlafstätte der Aale« bezeichnet. Die Herbstluft war an jenem Abend ein wenig frisch, Shojiros Party fand aber dennoch draußen auf einer Holzveranda statt, die auf Stelzen über dem Flußwasser stand. Niemand schenkte uns groß Beachtung, als wir durch die Glastür traten. Die Veranda wurde von Papierlaternen beleuchtet, der Fluß schimmerte im Licht eines Restaurants am anderen Ufer wie Gold. Alle hörten Shojiro zu, der mit seiner Singsangstimme eine Geschichte erzählte, aber Hatsumomos Miene verdüsterte sich, als sie uns entdeckte. Ich mußte unwillkürlich an eine beschädigte Biene denken, die ich am Tag zuvor in der Hand gehalten hatte, denn Hatsumomos Gesicht wirkte inmitten all der fröhlichen Gesichter wie eine angefaulte Stelle.
Mameha begab sich zu Hatsumomo und kniete sich neben sie, was ich ziemlich mutig von ihr fand. Ich selbst setzte mich ans andere Ende der Veranda neben einen sanftmütig wirkenden alten Mann, der sich als der Kotospieler Tachibana Zensaku entpuppte, dessen verkratzte, uralte Schallplatten ich noch heute besitze. Wie ich an jenem Abend entdeckte, war Tachibana blind. Obwohl ich aus ganz anderen Gründen gekommen war, hätte ich nur allzugern den ganzen Abend im Gespräch mit ihm verbracht, denn er war ein faszinierender, liebenswürdiger Mann. Aber wir hatten kaum mit dem Gespräch begonnen, als plötzlich alle in lautes Lachen ausbrachen.
Shojiro war ein höchst bemerkenswerter Mime. Er war so schlank wie ein Weidenast, mit eleganten, bedächtigen Fingern und einem sehr langen Gesicht, das er auf ganz außerordentliche Art zu verziehen verstand; er hätte eine ganze Horde Affen dazu bringen können, ihn als einen der ihren zu betrachten. In diesem Moment imitierte er die Geisha neben ihm, eine Frau in den Fünfzigern. Mit seinen weibischen Gesten – er schürzte die Lippen, er rollte die Augen – gelang es ihm, ihr so ähnlich zu sehen, daß ich nicht wußte, ob ich lachen oder einfach dasitzen und mir vor Staunen die Hand vor den Mund halten sollte. Ich hatte Shojiro zwar auf der Bühne gesehen, das hier fand ich jedoch bei weitem besser.
Tachibana beugte sich zu mir herüber und fragte mich flüsternd: »Was macht er?«
»Er imitiert eine ältere Geisha, die neben ihm sitzt.«
»Ach«, sagte Tachibana, »das wird wohl Ichiwari sein.« Dann berührte er mich mit dem Handrücken, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. »Der Direktor des Minami-za-Theaters«, sagte er und spreizte unter dem Tisch, wo niemand es sehen konnte, den kleinen Finger ab. Wenn man in Japan den kleinen Finger hebt, so bedeutet das »Freund« oder »Freundin«. Tachibana teilte mir mit, daß die ältere Geisha, die Ichiwari hieß, die Geliebte des Theaterdirektors sei. Und tatsächlich, auch der Direktor war anwesend und lachte lauter als alle anderen.
Einen Augenblick später, noch immer mitten in seiner Possenreißerei, steckte Shojiro sich einen Finger in die Nase. Dabei lachten sie alle so laut, daß die ganze Veranda bebte. Ich wußte es damals noch nicht, aber es war eine von Ichiwaris stadtbekannten Angewohnheiten, sich in der Nase zu bohren. Als sie das sah, wurde sie puterrot und hielt sich den Ärmel ihres Kimonos vors Gesicht. Shojiro, der eine beträchtliche Menge Sake getrunken hatte, machte auch das umgehend nach. Die Anwesenden lachten höflich, doch nur Hatsumomo schien es wirklich komisch zu finden, denn Shojiro übertrat allmählich die Grenze zur Grausamkeit. Schließlich sagte der Theaterdirektor: »Schon gut, Shojiro-san,
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