Die Geisha - Memoirs of a Geisha
als fernen Ort gesehen, wohin unsere Fische verfrachtet wurden. Wäre mein Leben dann wirklich schlimmer gewesen? Nobu hatte einmal zu mir gesagt: »Ich bin sehr leicht zu verstehen, Sayuri. Ich mag es nicht, wenn man mir Dinge unter die Nase hält, die ich nicht haben kann.« Vielleicht war ich ja wie er: Mein ganzes Leben in Gion hatte ich den Direktor vor mir gesehen, und jetzt konnte ich ihn nicht haben.
Nachdem ich etwa zehn Minuten auf Nobu gewartet hatte, begann ich mich zu fragen, ob er überhaupt erscheinen würde. Ich wußte, daß ich das nicht tun sollte, doch um ein wenig auszuruhen, legte ich den Kopf auf den Tisch, denn ich hatte in den vergangenen Nächten sehr schlecht geschlafen. Ich schlief zwar nicht ein, aber ich dämmerte eine Zeitlang in meinem allgemeinen Elend dahin. Und dann schien ich einen höchst seltsamen Traum zu haben. Ich glaubte in der Ferne das Dröhnen von Trommeln zu hören, ein Zischen wie von Wasser aus einem Hahn, und dann spürte ich die Hand des Direktors auf meiner Schulter. Ich wußte genau, daß es die Hand des Direktors war, denn als ich den Kopf von der Tischplatte hob, um zu sehen, wer mich da berührt hatte, stand er da. Das Trommeln waren seine Schritte gewesen; das Zischen war die Tür in ihren Schienen. Und jetzt stand er vor mir, während hinter ihm eine Dienerin wartete. Ich verneigte mich und entschuldigte mich dafür, daß ich eingeschlafen war. Und so verwirrt war ich, daß ich mich sekundenlang fragte, ob ich tatsächlich wach war. Aber es war kein Traum. Der Direktor ließ sich auf dem Kissen nieder, das ich für Nobu bestimmt hatte, während Nobu noch immer nicht zu sehen war. Als die Dienerin den Sake auf den Tisch stellte, schoß mir ein furchtbarer Gedanke durch den Kopf. War der Direktor gekommen, um mir zu sagen, daß Nobu einen Unfall gehabt habe oder daß ihm etwas anderes Schreckliches zugestoßen sei? Denn warum wäre Nobu sonst nicht selbst gekommen? Gerade wollte ich den Direktor fragen, als die Herrin des Teehauses zur Tür hereinspähte.
»Ja, Direktor!« sagte sie erstaunt. »Wir haben Sie seit Wochen nicht mehr gesehen!«
In Gegenwart von Gästen war die Herrin stets gut gelaunt, doch am angestrengten Ton ihrer Stimme erkannte ich, daß sie etwas ganz anderes beschäftigte. Vermutlich fragte sie sich, genau wie ich, was mit Nobu los sei. Während ich dem Direktor Sake einschenkte, kam die Herrin herein und ließ sich am Tisch nieder. Sie hielt seine Hand fest, bevor er aus seiner Tasse trinken konnte, und beugte sich zu ihm, um den Duft des Sake einzuatmen.
»Also wirklich, Direktor, ich werde nie begreifen, warum Sie diesen Sake den anderen vorziehen«, sagte sie. »Wir haben heute nachmittag ein frisches Fäßchen geöffnet, den besten, den wir seit Jahren gehabt haben. Ich bin sicher, daß Nobu ihn genießen wird, wenn er eintrifft.«
»Das würde er sicher«, antwortete der Direktor. »Nobu genießt erlesene Dinge. Leider wird er heute abend jedoch nicht kommen.«
Es beunruhigte mich, das zu hören, aber ich hielt den Blick auf den Tisch gesenkt. Wie ich feststellte, war die Herrin ebenfalls überrascht, denn sie wechselte sehr schnell das Thema.
»Ach so«, sagte sie. »Wie dem auch sei, finden Sie nicht, daß unsere Sayuri heute abend bezaubernd aussieht?«
»Wann hat Sayuri denn einmal nicht bezaubernd ausgesehen?« gab der Direktor zurück. »Wobei mir einfällt… Darf ich Ihnen etwas zeigen, was ich mitgebracht habe?«
Damit legte der Direktor ein kleines, in blaue Seide gewickeltes Bündel auf den Tisch, das ich, als er das Zimmer betrat, nicht in seiner Hand gesehen hatte. Er löste den Knoten und nahm eine kurze, dicke Bildrolle heraus, die er langsam auseinanderzog. Sie war vor Alter rissig geworden und zeigte – en miniature – leuchtend bunte Szenen des Kaiserhofs. Wenn Sie je diese Art Bildrolle gesehen haben, werden Sie wissen, daß man sie durchs ganze Zimmer entrollen und das gesamte kaiserliche Areal betrachten kann, von den Toren an einem Ende bis zum Palast am anderen. Der Direktor saß davor und rollte es von einer Spindel bis zur anderen – vorbei an Szenen von Trinkpartys, von Aristokraten, die mit zwischen die Beine geklemmtem Kimono Kickball spielten –, bis er zu einer jungen Frau gelangte, die in wunderschönen, zwölfschichtigen Gewändern auf dem Holzboden vor den Gemächern des Kaisers kniete.
»Nun, wie finden Sie das?« fragte er sie.
»Eine großartige Bildrolle«, lobte die Herrin. »Wo hat
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