Die Geisha - Memoirs of a Geisha
außergewöhnlich tüchtigen Arzt kennengelernt. Was meinen Sie – soll ich ihn bitten, bei Ihnen vorbeizukommen?«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte Mutter, »aber gewiß denken Sie da an ein anderes Mädchen. Sie hätten unserer Chiyo in der Schule gar nicht auf dem Gang begegnen können. Sie hat seit mindestens zwei Jahren nicht mehr am Unterricht teilgenommen.«
»Meinen wir wirklich dasselbe Mädchen? Sehr hübsch, mit ungewöhnlichen grauen Augen?«
»Sie hat tatsächlich außergewöhnliche Augen. Aber dann muß es in Gion zwei solche Mädchen geben… Wer hätte das gedacht!«
»Ich frage mich, ob es wirklich möglich ist, daß zwei Jahre vergangen sind, seit ich sie dort gesehen habe«, sagte Mameha. »Vielleicht hat sie einen so starken Eindruck auf mich gemacht, daß es mir vorkommt, als wäre es erst vor kurzem gewesen. Darf ich fragen, Frau Nitta, ob es ihr gutgeht?«
»Aber ja! Kerngesund wie ein junger Baumschößling, und ebenso widerspenstig, wenn ich so sagen darf.«
»Und dennoch nimmt sie nicht mehr am Unterricht teil? Wie rätselhaft!«
»Für eine junge Geisha, die so beliebt ist wie Sie, muß Gion zweifellos ein Ort sein, an dem man sein Brot leicht verdienen kann. Aber, die Zeiten haben sich geändert. Ich kann es mir nicht mehr leisten, in ein x-beliebiges Mädchen zu investieren. Sobald mit klarwurde, wie schlecht Chiyo geeignet ist…«
»Jetzt bin ich sicher, daß wir zwei verschiedene Mädchen meinen«, sagte Mameha. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß eine so kluge Geschäftsfrau wie Sie, Frau Nitta, Chiyo als ›ungeeignet‹ bezeichnet…«
»Sind Sie sicher, daß sie Chiyo heißt?« erkundigte sich Mutter.
Wir bemerkten es nicht, doch während sie diese Worte sprach, hatte sich Mutter vom Tisch erhoben und kam quer durch das kleine Zimmer zu uns herüber. Gleich darauf öffnete sie die Tür und starrte direkt in Tantchens Ohr. Tantchen trat beiseite, als wäre nichts weiter geschehen, und das war Mutter wohl ganz recht, denn sie warf mir nur einen kurzen Blick zu und sagte: »Komm einen Augenblick herein, Chiyo-chan.«
Bis ich die Tür hinter mir geschlossen und mich auf die Tatami-Matten gekniet hatte, um mich zu verneigen, hatte Mutter wieder am Tisch Platz genommen.
»Das ist unsere Chiyo«, sagte Mutter.
»Genau das Mädchen, an das ich dachte!« sagte Mameha. »Wie geht es dir, Chiyo-chan? Es freut mich, daß du bei so guter Gesundheit bist! Ich sagte gerade zu Frau Nitta, daß ich mir allmählich Sorgen um dich gemacht habe. Doch es scheint dir wirklich gutzugehen.«
»Aber ja, Herrin, es geht mir sehr gut«, antwortete ich.
»Danke, Chiyo«, sagte Mutter zu mir. Ich verneigte mich zum Abschied, aber bevor ich wieder auf die Füße kam, sagte Mameha:
»Sie ist wirklich ein sehr hübsches Mädchen, Frau Nitta. Ich muß sagen, mir ist schon öfters der Gedanke gekommen, Sie um Erlaubnis zu bitten, sie zu meiner jüngeren Schwester zu machen. Aber nun, da sie nicht mehr in der Ausbildung ist…«
Es muß ein Schock für Mutter gewesen sein, das zu hören, denn obwohl sie gerade einen Schluck Tee trinken wollte, machte ihre Hand auf dem Weg zum Mund unvermittelt halt und verharrte reglos in der Luft, bis ich das Zimmer verlassen hatte. Ich hatte fast wieder meinen Platz auf dem Boden der Eingangshalle erreicht, als sie endlich eine Antwort gab.
»Eine so beliebte Geisha wie Sie, Mameha-san… Sie könnten jede Schülerin in Gion als jüngere Schwester haben.«
»Gewiß, ich werde oft darum gebeten. Aber ich habe schon seit über einem Jahr keine neue jüngere Schwester mehr aufgenommen. Man sollte meinen, bei dieser schlimmen Wirtschaftskrise würde der Kundenstrom allmählich versiegen, in Wahrheit aber habe ich noch nie soviel zu tun gehabt. Vermutlich bleiben die Reichen einfach weiter reich, selbst in einer so schweren Zeit wie dieser.«
»Die brauchen jetzt mehr Unterhaltung denn je«, erklärte Mutter. »Aber Sie wollten sagen…«
»Richtig – was wollte ich sagen? Nun ja, ist nicht so wichtig. Ich darf Sie nicht länger aufhalten. Es freut mich, daß Chiyo nun doch nicht krank ist.«
»Ganz und gar nicht! Aber, Mameha-san, wenn es Ihnen nichts ausmacht, warten Sie doch bitte noch einen Moment, bevor Sie gehen. Wollten Sie nicht sagen, Sie hätten fast in Erwägung gezogen, Chiyo als Ihre jüngere Schwester aufzunehmen?«
»Nun ja, aber nachdem sie schon so lange nicht mehr zur Schule geht…«, gab Mameha zurück. »Auf jeden Fall bin ich
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