Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
Für ihn sind Gespräche mit den Toten ganz normal. Sind Sie bereit?«
»Hätten Sie bitte noch ein Glas Wasser für mich?«, bittet der Protagonist des heutigen Treffens.
»Aber selbstverständlich« – Maria del Roser schenkt ihm nach –, »trinken Sie, so viel Sie möchten! Fühlen Sie sich wie zu Hause.«
Francisco Canals nimmt ein paar Schluck, stellt das Glas auf dem Tisch ab und schließt die Augen. Dann sieht er wieder auf und spricht ohne zu zögern zu den Anwesenden, wie an dem Abend, an dem er im Teatro Calvo-Vico auf die Bühne gegangen war.
»Die Toten sind unsichtbar, aber nicht abwesend«, sagt er.
Alle sind von der Gewissheit überwältigt, mit der er diese Worte verkündet. Er wirkt plötzlich wie ein anderer Mensch, so als ob die Wahrheit, die er in seinem Inneren bewahrt, ihm Stärke verleiht.
Eduardo Conde gibt Maria del Roser einen Wink, und diese erhebt sich, um die Läden des einzigen Fensters zu schließen. Nun herrscht in dem Raum eine Dunkelheit, die absolut wäre, wenn darin nicht die zwölf kleinen Flammen der Handleuchter flackern würden, wie stets zu den Sitzungen. Francisco Canals nimmt aus seiner Tasche eine schwarze Augenbinde und reicht sie Don Eduardo. Alle können sehen, wie seine Hand zittert. Don Eduardo steht auf, verbindet dem Medium die Augen und nimmt wieder Platz. Maria del Roser reicht ihrem Gast einen Federhalter, ein Tintenfass und ein Blatt Papier. Nun kann es losgehen. Die Stille verstärkt den aufgeregten Atem des Mediums. Niemand wagt die geringste Bewegung. Alle Blicke konzentrieren sich auf den Zelebranten.
Dieser wiederum umklammert die Feder mit zitternder Hand. Alle sehen, dass er Linkshänder ist. Er taucht den Federhalter in die Tinte. Dann ziert ein Fleck in Form eines schwarzen Mondes die Seite. Er wartet einen Augenblick reglos darauf, dass etwas geschieht. Alle Augen sind auf ihn gerichtet. Da beginnt seine Hand erneut kräftig zu zittern. Die Feder drückt auf das Papier. Sie zieht einige unbeholfene Striche, wie Kinderkritzeleien. Wie unter einem heftigen Krampf schiebt sich die Feder in die Mitte des Blattes, und mit einem unüberhörbaren Kratzgeräusch entstehen die ersten Buchstaben.
Wenn ich ins Grab steige, werde ich nicht wie so viele andere sagen: Mein Tag ist vollbracht , schreibt sie plötzlich,
Die Feder unterbricht und nimmt Tinte auf. Dann kehrt sie aufs Papier zurück, und es geht weiter.
Das Grab ist keine Sackgasse, und mein Tag wird am nächsten Morgen neu beginnen.
Wieder erfolgt eine Pause. Mit genügend Tinte versorgt, fährt die Feder in der Hand fort.
Denkt nicht an das, was verdirbt. Nicht nur die Lebenden werfen Schatten. Seht genau ins Dunkel, und ihr werdet das Licht der Toten leuchten sehen.
Das krampfartige Zittern endet. Das Medium stößt einen Seufzer aus. Francisco Canals wartet einige Minuten ab, ob die Botschaft weitergeht, aber nichts geschieht. Nur seine linke Hand bebt noch. Schließlich legt er die Feder beiseite und flüstert mit ersterbender Stimme und hochroten Wangen:
»Ich glaube, das ist alles.«
Don Eduardo Conde nimmt das beschriebene Blatt Papier an sich und liest die gesamte Botschaft laut vor. Danach ruft er mit zufriedenem Gesichtsausdruck: »Beachtlich, junger Mann! Das sind ja lauter Absichtserklärungen! Wissen Sie, wer sie Ihnen diktiert hat?«
»Ich weiß nur, dass es ein höherer Geist ist«, antwortet der junge Mann.
»Daran besteht kein Zweifel. Aber gibt es sonst noch etwas, was Sie uns erhellen könnten?«
»Er findet sich nicht damit ab, tot zu sein. Es missfällt ihm. Vielleicht ist er erst vor kurzem hinübergegangen«, meint er.
»Wissen Sie, ob er ein Franzose sein könnte? Hat er Sie auf Französisch angesprochen?«, möchte eine Dame wissen.
»Die Geister benötigen keine Sprachen«, antwortet der junge Mann selbstsicher, »denn sie drücken sich in einer einzigen, universalen Sprache aus.«
»Aber ja doch!«
»Ich bin beeindruckt, Señor Canals«, bekennt Maria del Roser. »Sie besitzen wirklich eine wunderbare Gabe.«
Der junge Mann errötet wieder. Das scheint sein Normalzustand zu sein.
»Dabei war das noch gar nichts, meine werte Freundin. Señor Canals verfügt noch über ein weiteres Talent, wegen dem ich ihn kennenlernen wollte. Mit diesem vermag er unser Bewusstsein in seiner größten Tiefe zu erschüttern.«
»Wirklich? Was ist das für ein Talent?«
Die Stille unterstreicht die Spannung.
»Er muss einem Menschen nur in die Augen sehen, dann kann
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