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Die Geister schweigen: Roman (German Edition)

Die Geister schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Die Geister schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Care Santos
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er erkennen, wie viel Zeit ihm noch zu leben bleibt.«
    Diese Enthüllung löst unterschiedliche Wirkungen aus. Ausweichende Blicke sind die ersten. Nur wenige scheinen bereit zu sein, ein intimes Geheimnis preiszugeben, das sie selbst erschreckt. Dann folgen mehrere Rufe.
    »Und das funktioniert bei allen Menschen?«, fragt die Gastgeberin nach.
    Der junge Mann antwortet mit brüchiger Stimme. »Ja, Señora. Auch bei mir selbst.«
    »Wollen Sie damit sagen, dass Sie Ihr eigenes Todesdatum kennen?«
    »Ja, schon lange«, antwortet der junge Mann.
    Niemand wagt, die Frage laut zu stellen, die allen durch den Kopf geht. Francisco Canals kommt den Anwesenden zuvor. »Ich habe nur noch wenig Zeit.«
    Allgemeines Entsetzen.
    »Aber Sie stehen doch in der absoluten Blüte«, ruft jemand so entrüstet, als trage der junge Mann irgendeine Schuld.
    »Der Tod ist von Ihnen nicht weiter weg als von mir, Señora«, flüstert Francisco Canals ruhig. »Denn er folgt keiner Logik.«
    »Was ist mit der Todesursache? Können Sie die auch erkennen?«, mischt sich eine männliche Stimme ein.
    »Nein. Nur das Datum.«
    »Wenn ich die Todesursache wüsste, könnte ich vielleicht den Tod vermeiden.«
    »Ich sehe keinen Anlass dafür.«
    »Anlass? Ist denn der Tod nicht Anlass genug?«
    Der junge Mann trinkt einen Schluck Wasser. Seine ganze Antwort darauf ist: »Ich habe keine Angst vor dem Tod.«
    »Aber, werden wir Sie wiedersehen?«, möchte die ältere Dame wissen, die bereits das Wort ergriffen hatte.
    »Selbstverständlich. Ich werde in Ihrer Nähe sein. Nach meinem Abgang aus dieser Welt sogar noch mehr als jetzt.«
    Eduardo verliest noch einmal die Sätze auf dem Blatt Papier und meint dazu: »Vielleicht möchte der höhere Geist, der mit Ihnen Kontakt aufgenommen hat, uns eine Botschaft übermitteln, die Sie angeht.«
    »Vielleicht«, flüstert das junge Medium, während es mit der Hand über die Stirn streicht, um sich den unangenehmen Schweiß wegzuwischen.
    Maria del Roser erkennt, dass ihr Ehrengast Ermüdungserscheinungen zeigt, und beschließt einzugreifen. Sie steht auf, geht zu den Wandregalen mit den griechischen Klassikern und nimmt ein Kästchen heraus, das bis jetzt die dreibändige Gesamtausgabe von Aristophanes enthalten hat. Mit einer recht gemächlichen Feierlichkeit schreitet sie zu dem jungen Mann und übergibt ihm das Päckchen.
    »Señor Canals, hiermit überreiche ich Ihnen im Namen unseres Mittwochskreises ein bescheidenes Geschenk, als Zeichen für unsere Dankbarkeit.«
    Die zwölf Gäste beschäftigen sich wieder mit ihren Teetassen. Sie wirken erleichtert, während der junge Mann das Geschenk auspackt. Darin befindet sich eine Perlmuttschatulle, die mit rotem Samt ausgelegt ist, auf dem ein Goldring ruht. Die Augen des jungen Canals beginnen angesichts der Überraschung zu funkeln.
    »Innen ist Ihr Name eingraviert«, sagt ihm Maria del Roser.
    »Das ist zu viel. Sie hätten nicht … Ich habe niemals …«, der junge Mann findet keine Worte, und die Anwesenden haben daran ihre Freude. Er streift den Ring über seinen Mittelfinger. »Sie hätten sich keine Umstände machen sollen«, fügt er noch hinzu.
    Alle weichen seinem Blick aus.
    »Das sind überhaupt keine Umstände. Das ist nur eine kleine Aufmerksamkeit, damit Sie sich an uns erinnern und gerne noch einmal kommen.«
    Francisco Canals gibt keine Antwort. Er verabschiedet sich von dem Kreis mit der ausgesuchten Höflichkeit, die er in der Abteilung für Trauerkleidung des Warenhauses so oft an der Ladentheke erprobt hat.
    Auf der Treppe begegnen die Gäste Concha, die in dem Moment die kleine, gerade einmal ein Jahr alte Violeta zum Kinderzimmer hochträgt. Alle bleiben bei ihnen stehen, um die Kleine auf Conchas Arm zu bewundern. Sie geben all die lächerlichen Koseworte von sich, die Erwachsenen in der Gegenwart kleiner Kinder gewöhnlich einfallen. Francisco Canals Ambrós ist der letzte Gast. Er wartet, bis er hinuntergehen kann.
    Als alle anderen schon unten sind, geht er schweigend an Concha und dem kleinen Mädchen vorbei. Außer der Kinderfrau beachtet niemand seinen Gesichtsausdruck. Er betrachtet Violeta, und sofort verschwindet aus seinem Gesicht diese innere Ruhe, die ihn sonst auszeichnet. Seine Lippen kräuseln sich, er senkt den Blick und eilt die Treppe hinunter.
    Concha will ihm gerade sagen, wie gut ihr sein Auftritt im Teatro Calvo-Vico gefallen hat, aber sie hat keine Chance. Der junge Mann ist verschwunden. Er wird von der

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