Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
Eile eines Menschen getrieben, der etwas gesehen hat, was er lieber nicht gesehen hätte.
Von: Violeta Lax
Gesendet am: 24. März 2010
An: Valérie Rahal
Betreff: Deine Neugierde wird befriedigt …
Liebe Mama,
ich muss zugegeben, diese Seite an dir ist mir bislang unbekannt gewesen. Ich bin dir also noch eine Geschichte schuldig? Schön, dass ich dich neugierig machen konnte. Ich bin sicher, dass ich die großen Erwartungen, die ich geweckt habe, nicht enttäuschen werde. Sonst ist es dein volles Recht, dich über die Erzählerin zu ärgern.
Also, die Geschichte begann am 19. Dezember 1993, in Paris. Da habe ich jemanden kennengelernt, der für mein Leben ganz wichtig wurde. Wie alle bedeutsamen Dinge im Leben war alles reiner Zufall. Damals haben wir nur ein paar Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht und dabei festgestellt, dass wir ähnliche Interessen haben. Wir beide bewegten uns in der Kunstszene, ich in der Malerei, mein Gegenüber in der Musik. Die Person komponierte auch und wollte eine Band gründen und eine Platte aufnehmen. Wir haben uns dann Silvester wieder getroffen, während einer Reise mit ein paar Freundinnen von der Uni nach Barcelona. Wir haben miteinander geschlafen. Es war mein erstes Mal. Dann war erst einmal Funkstille, und ich habe die Erfolge nur aus der Ferne verfolgt. Der Name war in aller Munde, nicht nur in Frankreich, sondern auch in Spanien. Plötzlich wurde ein Song für irgendein Sportevent ausgewählt und damit richtig populär. Man hörte das Lied überall. Es folgten überall Auftritte und ich beschloss, auf das Paris-Konzert zu gehen. Gewissermaßen inkognito, aber in der ersten Reihe. Aber schon beim ersten Lied trafen sich unsere Blicke. Nach dem Auftritt sprach mich einer der Gorillas von der Security an und verkündete, dass mich jemand sehen wollte. Ich wurde in die Garderobe gebeten, du weißt schon, so geht es halt in der Rockszene zu. Natürlich bin ich mitgegangen.
Ich muss zugeben, zu der Zeit hat mich allein diese Präsenz umgeworfen, die Anziehungskraft, die so gewaltig war, dass ich es mit der Angst zu tun bekam. Ich hatte das Gefühl, alles für diese Person tun zu wollen, ein gleichermaßen großartiges wie unbehagliches Gefühl. Diese Selbstsicherheit, diese Ausstrahlung und diese Art, die Dinge einfach anzupacken, haben meinen eigenen Willen völlig ausgeschaltet. Ja, ich denke, diese Art der Selbstaufgabe ist die klassischste Definition von Verliebtsein, aber ich war damals nicht daran gewöhnt. Vermutlich bin ich es nie gewesen.
Unser Wiedersehen war phantastisch. Meine große Liebe sagte mir, dass sie jeden Moment an mich gedacht hatte. Ich gab darauf keine Antwort. Meine eigenen Gefühle erschreckten mich, und ich wollte sie lieber leugnen. Aber als nur wenige Monate später der Vorschlag kam, in Barcelona zusammenzuleben, habe ich trotz allem keine Sekunde gezögert. Zuerst versuchten wir es mit getrennten Wohnungen, später schlug ich vor, zusammenzuziehen. Meine Geste wurde dann als das Ende meiner Zweifel und Ängste interpretiert, und ich glaube, gewissermaßen war das auch so. Das war die einzige Phase in unserer Beziehung, in der ich mich ganz hingeben konnte, ohne Komplexe, ohne Vorurteile, einfach mit Haut und Haaren. Und es hat sich gelohnt. Das war wirklich das Größte, was ich je mit einem anderen Menschen zusammen erlebt habe. Ich weiß, es ist schlimm, wenn ich das sage, und natürlich muss ich dabei an Daniel denken und an das, was er für mich darstellt, und an die Rolle, die unsere Beziehung in meinem Leben spielt. Aber das sind nun mal meine Gefühle, und es wäre lächerlich, das nicht zuzugeben.
Die ganze Sache lief eine Weile lang sehr gut. In der Zeit machte ich mir sowohl bei Galeristen als auch in der akademischen Welt einen Namen. Ich veröffentlichte einige Artikel. Es hagelte Jobangebote. Ich beschloss plötzlich, mich auf meine Karriere zu konzentrieren, und zog mich zurück. Ich wollte nicht mehr bei öffentlichen Akten begleitet werden, also kam irgendwann die Frage auf, ob ich mich für meine Begleitung schämen würde. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich merkte, dass ich begann, dieser Liebe hoffnungslos Schaden zuzufügen. Dabei war dies aus irgendeinem unerfindlichen Grund nur der Anfang vom Ende.
Dann erhielt ich das Angebot, am Art Institute in Chicago mitzuarbeiten, und ich musste mich schnell entscheiden. Ich wusste, dass die Arbeit dort mit unserem gemeinsamen Leben unvereinbar war. Aber dennoch
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