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Die Geister schweigen: Roman (German Edition)

Die Geister schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Die Geister schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Care Santos
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verfolgte ich den Plan weiter. Doch alle Diskussionen führten nur in eine Sackgasse und bewirkten das Gegenteil: Auf einmal hatte ich nur noch das Bedürfnis, diese Phase meines Lebens abzuschließen. In Wahrheit war Chicago nur die perfekte Ausrede für eine Flucht. Ich verabschiedete mich nicht einmal. Ich nutzte einfach eine Tournee aus, packte meine Koffer und hinterließ auf dem Nachttisch eine Nachricht, in der ich mich für alles bedankte, was ich in der gemeinsamen Zeit gelernt hatte, und viel Glück für die Zukunft wünschte.
Ich bin mit zerbrochenem Herzen abgeflogen. Aber ich habe nicht ein Mal zurückgeschaut. Ich hatte einfach das Gefühl, dass diese Flucht die einzige Chance war, vorwärtszukommen. Das Ganze hatte etwas Atavistisches.
In Chicago habe ich dann gelernt, meine Sehnsucht zu kurieren und nach und nach mein vorheriges Leben zu vergessen. Ich schwor mir, erst wieder nach Barcelona zurückzukehren, wenn ich diese Erinnerung ausgelöscht hatte. Irgendwie wurde ich zu einem anderen Menschen. Der Mensch, den die anderen in mir sehen sollten. Ich verzichtete auf wesentliche Teile meiner Persönlichkeit. Und das Schlimmste ist, dass ich es nicht einmal bemerkt habe. Auf einmal tauchte Daniel auf. Das Sahnehäubchen. Und dann verstrichen fünfzehn Jahre. Die Zeit vergeht schneller als das Vergessen.
Vor kurzem habe ich in der Presse gelesen, dass meine große Liebe unheilbar an Krebs erkrankt ist. Auch wenn die Krankheit sich schon länger hinzog, war es diesmal ernst. Zuerst platzte die Tournee. Dann erschien eine neue CD, eine Sammlung mit bislang unbekannten Liedern, die aus persönlichen Gründen nicht veröffentlicht worden waren, so stand es zumindest in den Zeitungen. Auf diesem Album gibt es einen Song mit dem Titel »Adiós, Violeta«. Dieses Lied gab mir den letzten Anstoß. Ich glaube, auch wenn es zu spät ist, diese Person hat eine Erklärung verdient. Oder zumindest die Chance, mir persönlich Vorwürfe machen zu können. Du hast mir doch von klein auf gesagt: »Es ist niemals zu spät für das, was man tun muss.« Das stimmt doch, oder?
Deshalb bin ich nach Europa geflogen.
Aber, jetzt wo ich hier bin, stolpere ich schon wieder über meine eigene Feigheit. Ich kenne das Krankenhaus, ich habe die Telefonnummer des Managers, aber nach wie vor verschanze ich mich hinter irgendwelchen Ausreden, um meine Entscheidung hinauszuzögern. Ich bin wirklich starr vor Furcht.
Jetzt weißt du also Bescheid. Also herrscht zwischen uns beiden Frieden, ja?
Herzliche Grüße an Jason.

Deine dich liebende Tochter

Violín

XVI
    Der Tod von Rodolfo Lax kam für alle überraschend, selbst für Don Rodolfo selbst.
    Der Industrielle stand am 27. Juli 1909 vor dem Morgengrauen auf, besorgt wegen der drohenden Ereignisse, die ihm unabwendbar schienen. Das Stadtpalais in Barcelona war, wie immer in den Sommermonaten, ansonsten menschenleer. Don Rodolfo war der einzige Bewohner der von Geistern bewohnten, verschlossenen Zimmerfluchten, in denen die Möbel unter schützenden Tüchern ihren Sommerschlaf hielten. Nur sein Kabinett und sein Schlafzimmer standen noch offen. In diesen trägen Wochen der höchsten Temperaturen und der größten Müdigkeit war auch nicht mehr nötig. Der ganze Luxus für den einzigen Hausbewohner bestand aus seinem morgendlichen Kaffee, seiner ruhigen Lesestunde sowie dem Pläneschmieden, wie er den restlichen Tag seine Einsamkeit vertreiben könnte. Normalerweise verließ er morgens um zehn Uhr nach seiner Zeitungslektüre das Haus. Er besuchte eine seiner Fabriken, erledigte wichtige Angelegenheiten, traf drei oder vier Entscheidungen, auf die er später stolz war, und kehrte erst spät wieder heim, nachdem er im Hotel Colón das Abendessen eingenommen und bis in die Nacht die Gesellschaft der anderen Herren genossen hatte, die ebenfalls ohne ihre Familien glückliche Stunden verbrachten.
    »Es ist die einzige Jahreszeit, in der wir über Damen reden, ohne unter den eigenen zu leiden«, pflegte Lax lachend zu sagen.
    An jenem Dienstagmorgen herrschte in der Stadt eine falsche, von Schuld erfüllte Stille. Am Vortag war es in den Straßen zu besorgniserregenden Störungen gekommen, die niemand so recht einzuschätzen wusste. Einige Frauen hatten gegen die Entscheidung der Regierung demonstriert, ihre Männer in den Krieg nach Marokko zu schicken. »Das ist ein Krieg der Reichen, in dem nur wir Armen sterben«, lamentierten sie, und Lax gab ihnen völlig recht. Auch er hielt die

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