Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
ein Thema ansprechen, das mich persönlich betrifft, vor allem weil ich gesehen habe, wie geltende Gewohnheiten in einem Moment, in dem wir keinen Widerstand mehr leisten können, unsere Rechte und unsere Würde als Spiritisten verletzten. Ich meine hiermit die Beisetzungen. Wir alle wissen, dass es in San Quintín de Mediona, einem Ort in der Provinz Barcelona, einen Spiritisten-Friedhof gibt, der größer und schöner als der katholische Friedhof ist. Dort finden zahlreiche Beerdigungen statt, bei denen kein katholischer Kaplan seinen Ritus aufzwingt oder verbietet, dass der Leichnam der Erde zurückgegeben wird, so wie es in unserer Stadt seit einiger Zeit geschieht. Ich glaube, wir müssen in dieser Frage behutsam, aber standhaft sein. Wir müssen den Personen, die sich für vernunftbegabt halten, verständlich machen, dass es außer ihrer Sichtweise noch andere gibt, aber das darf nicht durch Zwang geschehen, sondern durch Überzeugung. Ich schlage deshalb eine gemeinsame Petition vor, in der wir Beisetzungen ohne kirchliche Rituale, also nach unseren Vorstellungen, fordern, und ich denke, wir sollten an dieser Forderung festhalten, so sehr man uns auch als Abergläubische, Ketzer oder sogar als Teufelskinder hinstellt. Wir müssen uns den Problemen der Zeit, in der wir leben, stellen, aber auch dem gewaltigen Einfluss der traditionellen Moral auf alle Schichten unserer Gesellschaft, die sich in bewegten Zeiten lieber unter dem schützenden Flügel des Unveränderlichen verkriechen möchten. Wir sollten trotz allem darauf vertrauen, dass einmal bessere Zeiten für uns anbrechen werden, und mit genau dieser Hoffnung weiterkämpfen.
Werte Freundinnen und Freunde, wir müssen uns einfach damit abfinden, dass wir vermutlich ein Jahrhundert zu früh auf die Welt gekommen sind.
Von: Valérie Rahal
Gesendet am: 7. April 2010
An: Violeta Lax
Betreff: Ach, die Liebe …
Meine liebe Tochter,
ich kann es nicht fassen, dass du in deinem Alter nicht die Symptome dieser geheimnisvollen Krankheit erkannt hast, die deinen Vater befallen hat. Denn diese Krankheit hat aus ihm einen umgänglicheren, attraktiveren, eleganteren, hinreißenderen, kommunikativeren und einfühlsameren Menschen als je zuvor gemacht. Modesto ist verliebt! Er hat mich angerufen, um es mir zu erzählen, aber das ist gar nicht nötig gewesen. Das habe ich deinem Bericht von dem Abendessen schon entnommen. Ihm habe ich am Telefon gesagt, dass ich es an dem Tonfall erkannt habe, wie er »Hallo« gesagt hat. Ich glaube, das hat ihn schwer beeindruckt.
Nein, dein Vater hat mich natürlich nicht angerufen, um mir mitzuteilen, dass er verliebt ist. Er hat mich angerufen, um mir mitzuteilen, und zwar genau in der Reihenfolge, dass er sich Sorgen um dich macht, dass ich mich darum kümmern soll und dass er heiratet. Die Trauung (nur standesamtlich) findet in Avignon statt, und zwar diesen Samstag um halb eins. Außerdem hat er mich gebeten, es dir zu sagen und dir auszurichten, dass er im Voraus deine Abwesenheit selbstverständlich entschuldigt und dass du ihm nichts zu schenken brauchst. Er ist völlig in diese junge Frau verschossen, die so gerne teure Markenuhren trägt. Nimm es mit Fassung, ich hätte vor fünfundzwanzig Jahren das Gleiche gedacht wie du jetzt.
Außerdem hat mich Drina angerufen. Sie sagt, dass sie dir ein Dutzend Mails geschickt hat und dass du kein Lebenszeichen von dir gibst. Ich habe ihr versichert, dass du wahnsinnig viel zu tun hast, dein Rechner den Geist aufgegeben hat und du ja bekanntlich auf Achse bist. Ich glaube, sie hat mir angemerkt, dass ich versucht habe, dich zu entschuldigen, und hat mir kein Wort geglaubt. Sie will wissen, ob du bald wiederkommst. Anscheinend häufen sich bei ihr wichtige Fragen, und ihr gehen die Ausreden aus (und ich glaube auch so langsam die Geduld). Sie sagte, das dringendste Problem sei eine Interview-Anfrage von CNN. Ich habe sie so verstanden, dass sie innerhalb von vierundzwanzig Stunden reagieren muss. Das ist doch toll: Ich habe eine VIP-Tochter!
Da ich nicht wusste, was ich sagen soll, gebe ich hiermit die Frage weiter: Gedenkst du bald zurückzukommen? Oder, besser gefragt: Gedenkst du überhaupt zurückzukommen?
Und was deine gescheiterte große Liebe angeht, kann ich dir nur sagen, dass ich mit etwas Skandalöserem gerechnet habe. Ich verstehe gar nicht, warum du mir so etwas Banales so lange verheimlicht hast. Eine unmögliche Liebe gibt es doch in den verstaubten Winkeln jedes Menschen,
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