Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
gehen würde. Eigentlich haben sie gedacht, dass der Krieg bald vorüber sein und in wenigen Wochen alles geklärt sein würde. Aber es ist alles anders gekommen. Nach dem Spanischen Bürgerkrieg kam der Zweite Weltkrieg, und alles ist noch komplizierter geworden. Dein Großvater musste länger im Ausland bleiben, als er vorhatte. Er ist auch in Nesso nur auf der Durchreise gewesen. Ich glaube nicht, dass er geplant hatte, mit ihr zusammenzubleiben.«
»Aber was du da sagst, ist doch schrecklich!«, stellte Silvana fest. »Haben die beiden sich gar nicht geliebt?«
»Deine Großmutter war fest davon überzeugt, dass er sie niemals geliebt hat. Dass sie nur ein Mittel gegen seine Einsamkeit gewesen ist. Eine vorübergehende Lösung. Und sie …« Fiorella machte eine Pause und trank noch einen kräftigen Schluck Sekt. »Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie wegen seines Weggangs gelitten hat, aber das kann natürlich alles auch Verstellung gewesen sein. Sie hat zum Gedenken das Atelier am See in diesem guten Zustand erhalten. Sie hat in seine Zukunft investiert.«
Silvanas unverhoffte Enthüllungen schienen mir etwas Licht in das Geheimnis dieser Bilder zu bringen.
»Das könnte erklären«, begann ich zu spekulieren, »warum sie so begierig war, die Bilder an den Ort, an den sie gehören, zurückzugeben. Diese Bilder bergen ihr Wesen. Und wenn das Museum in dem alten Familienwohnsitz tatsächlich Gestalt annimmt, tun sie das sogar noch mehr, als Eulalia vorhersehen konnte.«
Fiorella wollte darauf etwas sagen, doch Silvana, die sichtlich aufgebracht war, kam ihr mit der Frage, die ihr auf der Seele lag, zuvor: »Aber warum ist Großmutter denn niemals nach Barcelona zurückgekehrt?«
»Ihre Eltern sind kurz nach ihrer Abreise gestorben, als sie versuchten, das Haus der Familie Lax zu verteidigen. Bis sie diese Nachricht erhielt, ist viel Zeit vergangen und hat damit den letzten Grund zunichtegemacht, an einen Ort zurückzukehren, an dem nichts mehr auf sie wartete. Außerdem war ich damals schon auf der Welt gewesen, und Lax war weggezogen und hatte ihr das Haus in Nesso überlassen. Uns ist es am See gut gegangen. Er hat sie schließlich nicht schlecht behandelt. Er hat für die erwiesenen Gefallen bezahlt.«
»Mama, wie kannst du so etwas auch nur sagen? Er hat sie nicht schlecht behandelt? Er hat sie verlassen. Und dich auch!«
»Sie hat mit ihm sehr viel mehr Zeit verbracht, als zu erwarten gewesen war. Er war ein großzügiger Mann. Deine Großmutter hat mir erzählt, dass sie in dem Dorf ein recht zurückgezogenes Leben führten und kaum ausgingen. Und wenn sie es taten, hielten die Dorfbewohner sie für Vater und Tochter. Sie selbst haben diesen falschen Eindruck anfangs nicht korrigiert, weil er ihnen entgegenkam. Beide haben befürchtet, dass die Justiz sie irgendwann finden und zwingen würde, nach Spanien zurückzukehren. Ich dachte immer, dass diese Befürchtungen mit Mutters Jugend zu tun hatten und damit, dass sie nicht verheiratet waren. Aber nach allem, was Violeta uns erzählt hat, vermute ich, dass es nicht darum ging, sondern um eine viel ernstere und schrecklichere Sache. Ein echtes Verbrechen, das sie beide betraf.«
»Meinst du vielleicht, Großmutter ist seine Komplizin bei einem Mord gewesen? Herr im Himmel, Mama, das ist doch absurd! Du hältst Großmutter doch wohl nicht im Ernst zu so etwas fähig?«
»Wir alle haben unsere dunklen Seiten, Silvana«, erwiderte Fiorella. »Aber unserem Gegenüber zeigen wir meist nur das andere Gesicht. Wir wissen nicht, wie Großmutter mit sechzehn Jahren gewesen ist. Ich kann dir nur versichern – weil sie mir das selbst erzählt hat! –, dass sie große Angst hatte. Und natürlich keinerlei Erfahrung.«
Silvana schüttelte ungläubig den Kopf. Fiorella sah mir forschend in die Augen. Ich hatte das Gefühl, dass sie gleich in Tränen ausbrechen würde.
»Ich muss dauernd daran denken, was du über die Rückgabe der Bilder gesagt hast. Sie ist jahrelang die heimliche Geliebte von Amadeo Lax gewesen. Dass ihre lasziven Porträts nun neben den eleganten Porträts von Teresa Brusés und so vielen anderen Persönlichkeiten hängen, ist nur ein Akt der Gerechtigkeit. Ich vermute, genau diese Idee hat ihr in ihren letzten Lebensjahren sehr gut gefallen. Deshalb hat sie alles so peinlich genau eingefädelt. Sie wird endlich den Platz einnehmen, der ihr ihrer Ansicht nach zukommt, und zwar vor aller Augen.«
Aber
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