Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
der Regierung von Katalonien verwickelt waren, interessierten sie überhaupt nicht, obwohl Arcadio sie schon damals auf dem Laufenden hielt. Als das einzige juristisch mögliche Abkommen erzielt wurde, lebte Violeta bereits in den USA, und nur Arcadio blieb als Ansprechpartner für die Behörden in Barcelona. Aus Trägheit oder aus Bequemlichkeit meinten alle, diese Lösung hätte den Maler zufriedengestellt. Arcadio und Violeta hielten immer Kontakt, sie trafen sich sogar einige Male – immer in Chicago – und entwickelten so eine Freundschaft, die auf ihrer gemeinsamen Bewunderung für Amadeo Lax beruhte.
»Nun, ich nehme an, ein Gemälde kann sich nicht für alle Ewigkeit widersetzen«, flüstert Violeta.
Während des langen Schweigens, das nun folgt, kommt dem jungen Mann eine weitere Frage in den Sinn, die er jedoch nicht ausspricht. Das Gespräch zwischen Arcadio und Violeta, dessen Atmosphäre zu privat für seine Schüchternheit ist, endet mit der drängenden Aufforderung: »Das ist deine letzte Chance, Vio.«
»Genau deshalb bin ich dir ja so dankbar, dass du mich mitgenommen hast. Ich hätte es sehr bereut, wenn ich nicht gekommen wäre.«
»Da muss jemand von der Familie dabei sein. Und wenn es nur darum geht zu widersprechen.«
»Du gehörst doch zur Familie.«
Arcadio hat die Stimme gesenkt und gibt damit zu verstehen, dass er offener sprechen würde, wenn kein Vertreter der Institutionen anwesend wäre.
Einige Sekunden lang verharren die drei in einem erwartungsvollen Schweigen.
Der junge Mann wittert seine Chance.
»Ist das von Amadeo Lax?«, fragt er, indem er seinen Blick auf das Gemälde an der Wand richtet.
»Sein bestes Werk«, antwortet Arcadio.
»Und wieso ist das hier?«
»Hm«, seufzt der Nachlassverwalter, »das sollten Sie besser Ihre Vorgesetzten fragen.«
»Ach so, Entschuldigung«, pariert der junge Mann sofort den Hieb.
»Ihr Blick flößt immer noch Angst ein. Er ist so erschütternd …«, sagt Violeta, die eigentlich nur ein Selbstgespräch führt. Für sie ist ihre Großmutter Teresa niemals anwesender gewesen als in diesem Moment.
Arcadio setzt zu einem Lächeln an.
»Ja, das finde ich auch. Habe ich dir eigentlich erzählt, dass mich dein Großvater, als ich dieses Haus zum ersten Mal betreten habe, hier empfangen hat, in diesem Raum? Sein Lehnstuhl hat damals dort gestanden«, sagt er und zeigt auf eine bestimmte Stelle auf dem Holzfußboden, »mit der Rückenlehne zu dem Wandgemälde. Ich habe mich in einen Armsessel gesetzt, der hier stand, direkt neben der Tür. Während des ganzen Gesprächs hatte ich das Gefühl, dass Teresa uns überwacht.«
Im Allgemeinen ist das Gedächtnis der Menschen kurz und ungenau, doch in diesem Fall ist Arcadios Erinnerung völlig korrekt.
Bei seinem ersten Besuch war Arcadio Pérez ein Kunststudent mit dem absurden Ehrgeiz, ein kubistischer Maler zu werden, und ein maßloser Bewunderer von Amadeo Lax. Der Künstler indes stand kurz vor seinem Lebensende und war nur noch ein Haufen durchsichtiger Haut und gläserner Knochen. Niemals verließ er mehr das Haus. Um eingelassen zu werden, gab Arcadio vor, ein Interview für eine Kunstzeitschrift führen zu wollen. Anscheinend erwischte er Lax an einem guten Tag, denn der Maler war bereit, den jungen Mann zu empfangen. Dabei duldete der Maler damals noch weniger als je zuvor das Eindringen von Fremden in seinen Raum und zeigte sich nicht geneigt, über Kunst oder irgendetwas anderes zu sprechen. Die Malerei hatte er bereits vor mehr als zehn Jahren aufgegeben.
Arcadio brachte eine Schachtel Pralinen von Casa Foix mit sowie zwei Dutzend Fragen, die er, in dem Armsessel mit aneinander gepressten Knien sitzend, eine nach der anderen mutig hervorbrachte. Dem Hausherrn erschienen die Fragen interessant, und er beantwortete sie willig; er verspürte auf Anhieb Sympathie für den jungen Journalisten. Der Grund für dieses Wunder ist so alt wie die Schwächen der menschlichen Seele: Nichts schmeichelt einem Künstler, der längst vergessen ist, mehr als ein Bewunderer, der sich seine Offenheit und sein Gedächtnis vollständig bewahrt hat. Bei Arcadio wirkte alles ehrlich, sein Tonfall klang nicht gekünstelt, seine Bemerkungen enthielten keinen Hauch von Bosheit, sondern nur ergebene und offensichtliche Bewunderung. Er war eine reine Seele.
Nach dem Interview führte ihn der Künstler durch die oberen Stockwerke, die im Dunkeln lagen und leerstanden und das Vergessen und die
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