Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
Vergänglichkeit bewusst machten. Unter diesen beneidenswerten Umständen wurde Arcadio das Privileg zuteil, durch das beeindruckendste Museum zu wandeln, das sich einem neugierigen Menschen bieten kann: den Niedergang einer menschlichen Existenz.
Es gab kaum mehr Zeugnisse für das Leben der vergangenen Zeiten. In dem imposanten Kamin im großen Salon konnte man Spuren alter Asche erkennen. Die Räume im Obergeschoss lagen in einem Schlaf von Vergessen und Langeweile, und ich würde sagen, dass sie die Frauen vermissten, die sie bewohnt hatten: Maria del Roser, die erste Violeta, Teresa, Concha … Von den Abwesenden zeugten in den Räumen nur noch verwaiste Gegenstände: ein Wiegen-Nestchen ohne Füllung, an dem noch eine abgegriffene Wollquaste hing; ein Handfeger mit zerbrochenem Griff; die Perlen von einem Rosenkranz, die über die Holzböden kullerten, als wären sie lebendig …
Die Türen standen offen, und es gab nichts zu verbergen: Das Haus war wie ein riesiges leeres Grab. Nur der umgebaute Patio und die Mansarde enthielten noch einen Lebenshauch.
Amadeo Lax griff nach dem Arm seines jungen Bewunderers und blieb vor seinen eigenen Bildern stehen, die ohne sichtliche Systematik oder Abstimmung an allen Wänden hingen; er kommentierte sie mit der Arroganz des Urhebers, wobei er sich über seine eigenen künstlerischen Wagnisse freute, Anekdoten zum Besten gab, immer in Erwartung auf das Echo seines beeindruckbaren Adepten.
»Kennen Sie Ramon Casas?«, fragte der Künstler.
»Ja, ja, aber natürlich.«
»Das Ölgemälde hier hat ihm gut gefallen. Ich glaube, er hat versucht, es in einem seiner letzten Bilder nachzuahmen, aber ich weiß nicht mehr, in welchem. Also, natürlich hat er gesagt, es sei eine Hommage.«
Oder, vor einem Familienporträt: »Sieht es nicht aus, als könne man erraten, was das Modell denkt? Seien Sie ehrlich!«
Arcadio gelang es, das zu sagen, was Lax hören wollte, und dabei zugleich aufrichtig zu sein. Dieses Talent öffnete ihm die Türen zum letzten Bollwerk des Malers: die Mansarde. Ein Chaos aus Gerümpel und Gemälden, das – außer Lax selbst – fast niemand je betreten hatte.
Dort erblickte Arcadio auch zum ersten Mal den einzigen weiblichen Akt der Sammlung. Das verstörende Bild schockierte ihn auf Anhieb, wegen der unerhörten Thematik und wegen seiner groben Ausführung. Es zeigte eine sehr junge Frau, die mit geöffneten Beinen in einem vornehmen Armsessel sitzt und den Betrachter mit ihrem Blick fixiert. Die Vulva – die nur aus zwei dunklen, kräftigen Pinselstrichen bestand – glänzte wie eine frische Wunde. Der italienische Titel lautete Il falso ricordo , »Die falsche Erinnerung«.
»Eigentlich wollte ich es vor meinem Tod verbrennen«, sagte ihm Lax.
»Warum?«, fragte der Besucher neugierig.
»Weil es niemanden etwas angeht.«
Die beiden Männer schritten weiter.
»Und, haben Sie Ihre Meinung geändert?«
»Noch besser: Ich habe es vor kurzem verkauft. An einen Privatsammler. An einen Baron, ich glaube, ein Holländer oder Schweizer oder Ungar, ich kann mich nicht mehr genau erinnern; jedenfalls ein großartiger Mann. Er hat mir gesagt, dass er es in seinem Haus in London aufhängen will. Das ist perfekt, denn ich will es in keinem Museum ausgestellt wissen, aber das Geld kommt mir zupass.«
Arcadio fragte nicht weiter. Er stellte nur fest: »Ich habe immer gedacht, dass Sie sich nicht für Akte interessieren. Ich meine, als Thema.«
Lax antwortete nicht. Er gab nur ein paar gutturale Laute von sich, die wie Geräusche aus verstopften Rohrleitungen klangen.
Sie gingen den Weg zurück und landeten schließlich vor Teresas Porträt. Wieder in dem ehemaligen Patio angekommen, flüsterte Lax, als jeder in seinem Sessel saß: »Es gibt nur eine Möglichkeit eine Frau festzuhalten: indem man sie malt.«
Allmählich wurden Arcadios Besuche bei seinem verehrten Maler zu einer Gewohnheit. Anfangs schob er noch die eine oder andere Ausrede vor – er wolle ihm sein eigenes unausgegorenes Werk zeigen, den Maler um professionellen Rat bitten, ihm ein Exemplar der Zeitschrift überreichen, in der das Interview erschienen war, oder einfach nur sich bei dem alten Mann nach dessen Befinden erkundigen –, bis er schließlich keinen Grund mehr benötigte, um die Türen zu durchschreiten, die die aufrichtige Vertrautheit, die zwischen den beiden Männern allmählich entstanden war, aufgetan hatte.
Arcadio erwies sich zudem als die perfekte
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