Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
und an diese Treppe, an den Ernst einer in Tränen aufgelösten Hausangestellten, an das Licht, das durch die wunderschönen bunten Glasfenster im ersten Stock gefiltert wird, an den beeindruckenden Kamin im Salon, vor dem der feierlich geschmückte Sarg stand, in dem ihr Großvater Amadeo lag, als würde er schlafen, ein Mann, den sie nie kennengelernt hatte.
Sechsunddreißig Jahre später geht Violeta den gleichen Weg. Das Hausportal, die Marmortreppe, der Flur mit seinen Mosaiken und der Holzkassettendecke – die Details und die tatsächlichen Abmessungen sind zwar neu für sie, doch sie ist genauso beeindruckt wie damals –, der große Salon, der gewaltige Kamin, die Glastüren zum ehemaligen Patio …
Violeta nähert sich dem Kern ihrer frühesten Erinnerungen. Sie hält mehr oder weniger an der Stelle inne, an der damals der Sarg von Amadeo Lax stand. Sie blickt konsterniert um sich. Schließlich ergreift Arcadio das Wort: »Ja, wie mag das nur in seinen besten Zeiten ausgesehen haben, nicht wahr?«
Violeta enthält sich jeglichen Kommentars und geht weiter. Sie stößt die Tür auf, durch die man in den ehemaligen Patio gelangt. Die unversehrten Fenster verbergen den Glanz vergangener Zeiten unter einem Mantel aus grauem Staub. Sie betritt diesen Raum, die Augen fest auf die rückwärtige Wand gerichtet, von der aus Teresas abwesender Blick ihr ein merkwürdiges Willkommen bereitet. Das Fresko leuchtet, trotz seines bedauernswerten Zustandes. Es ist nach wie vor ein beeindruckendes Kunstwerk, das einem den Atem raubt. Es ist in dunklen Farbtönen, mit groben und wütenden Pinselstrichen gemalt; die weibliche Gestalt beherrscht vollständig diesen Raum. Violeta kann sich von ihrem ersten Besuch nicht an sie erinnern. Sie fragt sich, ob so ein Kunstwerk überhaupt dem Blick eines kleinen Mädchens entgehen und keinen Eindruck hinterlassen kann. Oder vielleicht waren es auch die Umstände: Kaum hatten sie ihrem verstorbenen Großvater die kurze Ehre erwiesen, verließen Modesto und sie schnell das Haus. Jetzt kann Violeta nicht umhin, sie wird von Gefühlen überwältigt: Schließlich und endlich ist die Frau auf diesem Porträt ihre Großmutter. Eine abwesende Großmutter, wie der Titel sagt, eine unbekannte Großmutter, nach der sie niemals gefragt hat, über die niemals gesprochen wurde, um die absichtlich der Mantel des Vergessens gehüllt wurde.
Violeta sagt nichts. Ihr Schweigen spricht für sie. Und der Glanz ihrer Augen, die etwas mit den Augen auf dem Porträt gemeinsam haben, die in die Ferne blicken.
Arcadio folgt ihr und stellt sich hinter sie, um Teresa zu betrachten.
»Ich freue mich, dass du kommen konntest«, sagt er.
»Der Entschluss ist mir nicht leicht gefallen. Beinahe hätte ich die Reise doch noch abgesagt. Morgen wird im Art Institute die Ausstellung über die Porträtmaler eröffnet. Du weißt ja, das ist ein sehr persönliches Projekt, für das ich lange gekämpft habe. Am Ende ist alles gut geworden, aber ich verpasse nun die Glückwünsche und die Honneurs.«
Es entsteht ein gemeinsames Schweigen. Ihre letzten Gespräche hatten diese Ausstellung zum Gegenstand gehabt, in der selbstverständlich auch Amadeo Lax vertreten ist – dank der Leihgaben des Museu Nacional d’Art de Catalunya und eines Privatsammlers.
»Aber wenn ich es mir recht überlege, bin ich lieber hier«, stellt Violeta lächelnd fest.
Die ernste Stimmung wird mit der Ankunft des jungen Beamten gebrochen. Kaum hat er die Schwelle der Glastür überschritten, rutscht ihm heraus: »Na hoppla!«
Unbedarft fragt er weiter: »Was ist das denn?«
Niemand antwortet ihm. Violeta ist nachdenklich. Sie verharrt in dieser ehrfürchtigen Haltung, die einem Meisterwerke abverlangen.
Der junge Mann wird hartnäckig: »Gehört das der Generalitat oder der Familie?«
Diese Frage versetzt Violeta einige Jahre zurück, in die Zeit, in der die Streitereien um das Erbe des Malers begannen.
»Leider gehört es der Generalitat«, antwortet Arcadio, der immer zu redlich war, um sich mit den Behörden der Autonomen Region Katalonien anzulegen. Oder vielleicht mangelt es ihm auch nur am notwendigen Elan.
Dennoch verteidigt er die Interessen von Amadeo Lax in einem Maß, wie dies keiner seiner rechtmäßigen Erben getan hätte. Als Violeta während ihres Studiums in Barcelona landete, war das Haus verriegelt und sie selbst zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Die Prozesse, in die die Rechtsanwälte der Familie sowie
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