Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
sagen, dass ich mir große Sorgen um dich mache. Ich habe das Gefühl, dass derzeit bei dir viele Dinge gleichzeitig passieren, und ich verstehe überhaupt nichts mehr.
Bitte, versprich mir, dass du gut auf dich aufpasst, ja? Und dass du auf mich zählst, wenn du Hilfe benötigst, auch über das Führen deines Terminkalenders hinaus, in Ordnung?
Drina
III
Violeta kommt nicht allein.
Sie wird von zwei Herren begleitet. Der Jüngere, der ein blaues Jackett und Streifenkrawatte trägt, verströmt diese etwas kostümierte Aura eines Jugendlichen, der noch nicht daran gewöhnt ist, sich wie ein erwachsener Mann zu kleiden. Er hat die Schlüssel bei sich. Während des Besuchs hält er sich zurück und wird das Schweigen nur brechen, um seine Naivität zu beweisen.
Der andere ist ein schlanker Mann mit leicht gebeugtem Rücken und üppigem, graumeliertem Haar, das keineswegs mehr als sechzig Jahre verrät; er versteckt seine Augen hinter den dicken Gläsern einer Schildpattbrille. Dieser Mann heißt Arcadio Pérez, und trotz seines fröhlichen und energischen Blicks wirkt er wie jemand, den unvermeidliche Umstände aufgerieben haben. Er trägt ein weißes Hemd, das ihm zu groß ist, eine abgetragene Wolljacke, khakifarbene Hose, einen Ledergürtel mit Metallschnalle und Mokassins mit Troddeln. Er ist der Einzige der Besucher, dem das Haus wirklich vertraut ist. Seine Rolle als Fremdenführer scheint ihm zu gefallen.
»Man hat mir ja gesagt, dass das Gebäude phantastisch ist, aber so etwas hatte ich nicht erwartet«, stellt der junge Mann fest und blickt sich vom unteren Absatz der imposanten Marmortreppe um. »Sie sagen uns, wohin wir gehen müssen, Don Arcadio, ja?«
Auch Violeta ist stehen geblieben. Sie sieht nach oben und schüttelt verärgert den Kopf. Ihre Haltung vermittelt unmissverständlich Eleganz, dabei ist sie schlicht, ja fast nachlässig gekleidet: Jeans, gelbe Bluse, Stiefel, schwarze Lederjacke. Ihre blasse Haut bildet einen Kontrast zu ihrem halblangen tiefschwarzen Haar, das etwas zerzaust ist. Sie hat schmale Lippen, katzenhaft wirkende Augen, eine gerade Nase und hervorstehende Wangenknochen. Ihre Gesichtszüge muss sie nicht mit Make-up betonen. Sie ist keine Schönheit, aber ihre herzliche Freundlichkeit und ihre fröhliche Ausstrahlung machen sie zu einer attraktiven Frau.
Ihre Bewegungen erinnern sofort an ihre Vorfahren. Sie hat die Distinguiertheit, die für ihren Großvater Amadeo immer so bezeichnend war, die bei ihr jedoch nicht mit Hochmut zu verwechseln ist. Ihr Gesichtsausdruck, der Glanz ihrer Augen, die feinen Gesten und die blasse Haut stammen von Teresa, auch wenn dies niemand wissen will oder kann. Sie hat auch ansatzweise etwas von den Gesichtszügen von Maria del Roser, und ihre offensichtliche Zartheit ruft sogleich die andere Violeta ins Gedächtnis, das unglückliche Mädchen mit einer aussichtsreichen Zukunft, ihre Ahnin, die so früh gestorben ist.
Hier steht eine Familienerbin.
Die drei Besucher entstammen sehr unterschiedlichen Welten, und diese in Marmor gehaltene Eingangshalle ist für sie eine Art Schnittstelle.
»Pass auf, es ist ziemlich schmutzig«, warnt Arcadio Violeta.
»Wie kann das angehen?«, flüstert sie, während sie sich entsetzt umblickt und unaufhörlich den Kopf schüttelt.
»Ich habe dir doch gesagt, dass alles sehr vernachlässigt ist. Es ist eine wahre Schande, was sie aus diesem Haus gemacht haben. Oder, besser gesagt, was sie nicht daraus gemacht haben.«
Der junge Mann scheint sich unbehaglich zu fühlen. Er repräsentiert hier genau die Institution, die gerade eben der Vernachlässigung bezichtigt wird. Er war zwar noch nicht auf der Welt, als der Staub begann, sich in dem Haus anzusammeln, aber er kann nicht umhin, er fühlt sich verantwortlich dafür. Selbstverständlich meinen seine Begleiter nicht ihn persönlich. Schon seit einigen Minuten haben sie seine Anwesenheit vergessen.
Ohne die verstaubten Pflanzenornamente der Balustrade zu berühren, setzt Violeta einen Fuß auf die Treppe.
»Ich möchte unbedingt das Fresko sehen«, gesteht sie und nimmt die ersten Stufen.
Violeta gibt das Tempo vor, ein gemäßigtes Tempo. Sie muss die Details erforschen, angesichts der Situation, die sich ihr bietet, ihr Entsetzen allmählich entwickeln. Der Schrecken trifft sie jedoch nicht persönlich, oder beinahe nicht. Sie war nur ein Mal hier, als kleines Mädchen, an der Hand von Modesto, ihrem Vater. Sie kann sich an das Hausportal erinnern
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