Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
Die Golorons verbrachten höchstens die Sommermonate in Argentona, wo sie den gleichen Lebensstil pflegten, wenn auch mit weniger Kleidung und mit mehr Vegetation.
Das Unglück dieser fleißigen Unternehmer allerdings waren die Angewohnheiten, die ihre Alleinerbin an den Tag legte. Die junge Dame war für die im Hause üblichen Sitten viel zu fröhlich. Sie fühlte sich nach Barcelona hingezogen und suchte unentwegt nach Vorwänden, die Großstadt zu besuchen und sich dem Strudel der schlechten Einflüsse auszusetzen, womit sie in den Augen von Vater und Onkel alles aufs Spiel setzte, was sie und ihre tapferen Vorfahren in all den Jahren geschaffen hatten. Es gab nur einen Weg, das Erbe zu bewahren, da Gott anscheinend nicht wollte, dass der unternehmerische Geist, der die männlichen Familienmitglieder auszeichnete, auf die nächste Generation überging: Es galt, für dieses verrückte Huhn einen Heiratskandidaten zu finden, der in der Lage war, mit all dem fertig zu werden. Einzig und allein aus diesem Grund begannen die Gebrüder Golorons in Begleitung der faden Gattin des Älteren, an den gesellschaftlichen Anlässen in Barcelona teilzunehmen, die sie eigentlich so verabscheuten. Aber Fortuna war ihnen hold, und in kurzer Zeit lernten sie ausgerechnet den jungen Mann mit der vielversprechendsten Zukunft der ganzen Stadt kennen.
Rodolfo hatte keineswegs angestrebt, das Erbe eines Textilimperiums anzutreten, doch mit seinem fröhlichen Wesen war er längeren Vorüberlegungen nicht zugeneigt. Der glückliche Zufall ihres Zusammentreffens war anderen Umständen geschuldet. Im Grunde genommen waren die beiden Unternehmer aus Mataró ebenso provinziell wie der junge Mann, der aus Vic geflüchtet war. Die Männer verband ihre gemeinsame Abneigung gegen einen exzentrischen Lebensstil, der ihnen nicht im Blut lag, auch wenn jeder von ihnen mit anderen Mitteln dagegen anging.
So kam es, dass Rodolfo Lax den Kampf aufnahm. Das Problem mit dem heiratsfähigen Mädchen wurde im zweiten Gespräch thematisiert, zu dem es zwischen den beiden Industriellen und dem jungen Lax kam. Die Gebrüder Golorons redeten ohne jegliche Umschweife und ließen kein wichtiges Detail aus, beispielsweise, dass die junge Frau nicht sonderlich attraktiv war. »Ich fürchte, sie ist auch nicht besonders häuslich«, merkte ihre Mutter noch an. Sobald eine gewisse Vertrautheit hergestellt war, bekannte der Vater seine Überzeugung, dass nur ein Ehemann mit klaren Vorstellungen das widerspenstige Mädchen im Zaum halten könne. Dann senkten sie die Stimme, um über die Mitgift zu reden, die den Kandidaten trotz ihrer Üppigkeit keineswegs beeindruckte. Das Angebot erfolgte während der Vorstellungspause der Eröffnung der Saison im Gran Teatro del Liceo, die von dem Streit beherrscht wurde, der das Publikum in Aufregung versetzte: Einige Zuschauer hielten es für Blasphemie, dass der junge Tenor Francesc Viñas – wenn auch nur in den Wiederholungen – es wagte, Wagner auf Katalanisch zu singen, ein Idiom, das für sie die unkultivierte Sprache der einfachen Leute war. Die anderen hingegen rühmten den sängerischen Wagemut, wobei ihre Augen voller Tränen standen, die sich einen Wettstreit mit den Brillanten lieferten, die an einigen Ohrläppchen hingen. Die Familie Golorons hatte in dieser Pause wichtigere Probleme zu lösen als irgendwelche musikalischen Petitessen, zudem war Wagner für sie ohnehin nur ein unkultivierter Banause. Mit äußerst nibelungischer Schwere nahmen sie das Gespräch mit Don Rodolfo in Angriff, und dieser versprach, noch vor der nächsten Vorstellung zu antworten, die zwei Abende später stattfand.
In jener Nacht dachte Rodolfo Lax in der Einsamkeit seines engen Junggesellenlagers über das Angebot nach, als ginge es um ein Geschäft. Er wog die Vor- und die Nachteile ab, die eine Eheschließung mit sich brachte, und fixierte schriftlich einen Zeitplan mit den Verpflichtungen, die ihm sein Status als verheirateter Mann abverlangte. Über die mögliche Verlobte musste er keine Bewertung abgeben, denn alles, was man ihm bislang über sie berichtet hatte, erschien ihm faszinierend. Er sehnte die Stunde herbei, sein Wissen über sie zu erweitern. Es erübrigt sich auszuführen, dass Rodolfo Lax in Sachen Frauen ebenso auf der Höhe der Zeit war wie in allen übrigen Belangen.
Er entschied, das Risiko einzugehen. Schließlich war es nicht riskanter, eine junge Dame zu ehelichen, als Grundstücke an der Straßenecke von
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