Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
weitere Variationen, je mehr vibrierende R, umso besser. Rodolfo verehrte sie vom ersten Moment, an dem er sie für ihre Überzeugungen wie auf einem Rednerpult kämpfen sah, und noch Sekunden vor seinem Ende hätte er geradeheraus erklärt, dass sie der größte Glücksfall war, den ihm das Leben beschert hatte. Was aus dem Munde des Erben von Manufacturas Golorons und dem Begründer von Industrias Lax nicht wenig war.
Sie hingegen liebte auf den ersten Blick an ihm – so erzählte sie zumindest einige Male – seine Ungeschicklichkeit. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war Rodolfo ein Mann, der niemals die Proportionen seines Körpers kannte. Er stieß gegen Türen, Treppen, Fenster, Möbel, … und zwar immer wieder, denn mit den Jahren musste sie feststellen, dass das Phänomen mit der Gewohnheit keineswegs abnahm. Zudem war diese Eigenschaft erblich, auch wenn sie das damals noch nicht ahnen konnte. In dem Augenblick kannte sie nur seine Liebeserklärung, die wie eine Rede bei einer Aktionärsversammlung klang und bei ihr eine unendliche Zärtlichkeit auslöste. Später erlebte sie ihren Verlobten als modernen, vergnügten und intelligenten Mann, der für langfristige Geschäfte mit einer Art sechstem Sinn ausgestattet war. Und da sie sich für Modernes, Vergnügen, Intelligenz und die Zukunft ganz gleich welcher Frist interessierte, kam sie sich wie die glücklichste Frau der Welt vor.
Aber kehren wir zu dem Umzug zurück und folgen wir nicht den Abwegen der Erinnerung, die alles aufwühlen, sonst läuft diese Geschichte Gefahr, kein Ende zu finden. An jenem Morgen Ende Januar 1899 begann die Familie Lax den Tag in einem Haus, das schon darauf vorbereitet war, dass man es nur noch mit einem letzten flüchtigen Blick bedachte. Alle wichtigen Dinge waren längst verpackt. Was an Ort und Stelle blieb, fiel dem Vergessen anheim. Ein Heer junger Burschen in blauen Staubkitteln erschien noch vor dem Morgengrauen und begann damit, die Karren zu beladen. Die Señora stand früher als gewöhnlich auf und war um sieben Uhr bereits vollständig angekleidet und parfümiert und erteilte Anweisungen. Don Rodolfo hatte das neue Heim als Vorhut aufgesucht, und ihm hatten sich Eutimia und einige Handwerker angeschlossen, die die Möbel aufschlagen sollten.
Bereits zur Mittagsstunde hatten fast alle das alte Haus verlassen. Einige, wie Juanita, die alte Köchin, mit Tränen in den Augen. Andere, wie die Kinder, mit mehr Hoffnung auf die Zukunft, die sich ihnen eröffnete, als Wehmut über die Vergangenheit, die hinter ihnen lag. Nur Amadeo war mürrisch, denn seine Mutter hatte ihm verboten, die Kiste mit den Schildkröten zu tragen. Sie hatte diese einem der Umzugshelfer anvertraut und somit den kleinen Tieren die Ehre verwehrt, die Familie auf dem Umzug zu begleiten.
Felipe erwartete sie auf der Straße und verbreitete eine feierliche Stimmung, was von dem Umstand betont wurde, dass eine Gruppe Passanten das viele Hin und Her beobachtete. Die Señora ordnete an, dass alle der Reihe nach aus dem alten Haus gingen, und bat Concha, die Kinder in die viersitzige Kutsche zu verfrachten.
Als ihr ältester Sohn hinaustrat, rief sie ihn zu sich: »Amadeo, willst du uns die Ehre erweisen und das Haus zum letzten Mal abschließen?«
Dieses Angebot ließ den Jungen, der gerade zehn Jahre alt geworden war, die Missachtung vergessen, denen seine Schildkröten zum Opfer gefallen waren. Er nahm den Schlüssel an sich, und mit der Haltung eines Erwachsenen steckte er ihn ins Schloss und drehte zwei Mal um, für immer.
Dann stiegen auch Mutter und Sohn in die Kutsche, wo sie von Violeta – auf Conchas Armen – und Juan erwartet wurden, der bereits ungeduldig und abenteuerlustig war. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg in ihr neues Leben. Die Señora winkte einigen Damen auf der Straße zu, und Concha tat das Gleiche mit deren Dienstmädchen. Sie gaben sich wie Prinzessinnen, die gerade ihren Palast verließen.
Die Fahrt durch das enge Gassengewirr verlangte ihnen zu der Tageszeit sehr viel Geduld ab. Einige Male mussten sie abwarten, bis der Weg wieder frei wurde. Sie fuhren ein letztes Mal durch die Calle Mercaders und überquerten die Calle de la Avellana. Unterwegs begegneten sie dem Scherenschleifer, den Eselinnen, die gerade gemolken wurden – die Kundschaft wartete mit verschränkten Armen, und die Señora erklärte den Kindern, dass Eselsmilch ein sehr gutes Heilmittel gegen Magenprobleme sei –, einem Karren
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