Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
mit lebendigen Hühnern und vor seinem Ladenlokal auch Pablo, dem Schneider, der den Spitznamen »der Lahme« trug. In der Calle de la Bomba wehte ihnen der Geruch des Milchgeschäfts entgegen, an dessen Tür ein Schild besagte: Wir verabreichen Klistiere und wir bekleiden Verstorbene.
Sie bogen nach rechts zur Plaza del Ángel ab, doch der Platz war verstopft mit Bauern, die lauthals ihre Waren anpriesen. Irgendwie erreichten sie dennoch die Cuesta de la Prisión und gelangten in Richtung der Calle de la Frenería. Die Señora, die endlich am Paseo de Gracia ankommen wollte, murmelte fortwährend vor sich hin: »Was für ein Glück, dass wir diese engen Gassen nicht mehr sehen müssen!«
Als sie schließlich auf die Ramblas einbogen, waren alle erleichtert, diese dem Tode geweihten Gassen hinter sich zu lassen, in denen alles, was sie nun noch betrachtet hatten, zum Verschwinden verurteilt war.
Im oberen Abschnitt der Rambla de Canaletas hatte sich ein Apfelsinenverkäufer niedergelassen. Seine Waren türmten sich auf dem sandigen Boden, und die Señora bat Felipe anzuhalten und trug Concha auf, einige Früchte zu kaufen. Die Amme wählte einige Früchte aus und handelte den Preis auf die Hälfte hinunter. Mit dieser leckeren Beute an Bord überquerten sie die moderne Plaza Catalunya. Sie waren frohgemut wie Ausflügler, auch wenn Amadeo eine Ausnahme zu machen schien, denn falls er glücklich war, so zeigte er es nicht. Er wirkte so ernst, schweigsam und beobachtend wie immer. Veränderungen behagten ihm nie sonderlich, nicht einmal als kleiner Junge, und in dem Moment stellte für ihn das neue Haus mehr Fragezeichen als Anlass zur Freude dar. Sein Bruder hingegen trällerte vor sich hin. Juan war dazu aufgelegt, alles und jedes zu bejubeln: Wenn sie die von Maultieren gezogene Straßenbahn überholten – die auf den Straßen auch schon altmodisch anmutete –, die Fassade des Palacio der Familie Samà, dessen Räume, so sagte man, im orientalischen Luxus gestaltet waren, die leuchtende Markise des Teatro Eldorado oder, vor allem, ihre Fahrt vorbei am Hotel Colón, auf dessen Terrasse die privilegiertesten Gäste der Stadt gerade frühstückten. Angesichts dieses luxuriösen Etablissements musste seine Mutter ihn ermahnen.
»Juanito, vergiss über deine Freude nicht deine guten Manieren«, sagte sie ernst und wandte sich dann Concha zu, die die schlafende Violeta auf den Armen hielt: »Ich hoffe, wir begegnen jetzt keinen Bekannten. Ich habe keine Lust auf Gespräche, während mir die Apfelsinen zwischen den Beinen herumkullern.«
Ein Gebäude mit spitzen Dächern, das an ein Märchenschloss erinnerte, hieß sie im Paseo de Gracia willkommen. Diese breite Straße war vermutlich die größte Errungenschaft der wohlhabenden Schicht Barcelonas. So imposant wie deren Ehrgeiz und so großartig wie deren Träume zeigte sich diese Avenida der Welt mit dem Glanz ihrer Schaufenster. Dort konnten sich die neureichen Industriellen und die altehrwürdigen Aristokraten angemessen präsentieren. Das Ergebnis war ein Boulevard, der so breit angelegt war und so weite Horizonte bot, wie man es in der Stadt bislang noch nicht kannte. Einige Damen blieben stehen, um der Familie Lax beim Vorbeifahren in ihrer Kutsche zuzuwinken, und die Señora erwiderte deren Grüße mit freudiger Stimme, während sie sich tiefer in ihre Samtstola hüllte. Es war sehr kalt und zudem fiel ein feiner, eisiger Regen, den die Jungen zunächst für Schnee hielten. In diesem fröhlichen Takt der Herzen, den das Pferd mit seiner Gangart zu begleiten schien, erreichten sie schließlich den Pasaje Domingo.
Zu diesem Zeitpunkt war das Haus der Familie Lax das einzige Gebäude der Straße, das bereits fertiggestellt war. Doch auch andere Baustellen waren schon weit fortgeschritten. Viele Bauarbeiter und Handwerker trieben sich, in zerlumpten Kleidern und lauthals rufend, auf der Straße herum. Die drei Geschwister betrachteten sie entsetzt – das Geschehen war etwas rau für diese Luxuswelpen.
Im neuen Haus wurde die Familie gespannt erwartet. Als die Kutsche unter dem Torbogen einfuhr, erblickte die Señora das gesamte Personal, das sich im Wagenhof wie eine Truppe beim Appell aufgestellt hatte. Sie lächelte freundlich und bat Concha flüsternd, sich um die Apfelsinen und die Kinder zu kümmern. Dann stieg sie mit Felipes Hilfe aus der Kutsche, um ihre treuen Bediensteten einen nach dem anderen zu begrüßen.
»Ich heiße euch alle herzlich in
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