Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
wieder den Kopf. Sie erschrak immer mehr. Um nichts in der Welt war sie bereit, diese Gleichstellung zu akzeptieren. Insgeheim begann Concha, Eutimia und den übrigen Hausangestellten recht zu geben. Die Señora zeigte wirklich keinen Respekt vor dem Allerheiligsten.
»Was bedeutet Gott für dich?«, fragte Doña Maria del Roser hartnäckig, aber mit ruhiger Stimme nach. »Kannst du diese Frage beantworten?«
»Hm … Gott …«, stammelte Concha wieder.
Das Bild von dem reglosen Körper ihres Kleinen kam ihr in den Sinn, sein leichenblasses Gesichtchen in ihren Armen, das letzte Mal, das sie ihn wiegen konnte, während sein über alles geliebter Körper erkaltete und sie immer noch auf eines dieser Wunder hoffte, von denen sie als Mädchen in den Heiligenlegenden gehört hatte.
Aber das Wunder geschah nicht.
»Gott hat mir viel angetan«, antwortete sie schließlich unter Tränen.
Die Señora reichte ihr lächelnd ein Taschentuch. Sie beschränkte sich darauf abzuwarten, einfach da zu sein, ihr beizustehen, ohne sie aus dem Blick zu lassen. Es gibt nur wenige Menschen, die es wagen, dem Schmerz der anderen in die Augen zu sehen.
»Ich glaube nicht, dass dies der Gott ist, den dein Herz braucht«, sagte sie schließlich, als Concha sich ein wenig beruhigte. »Ich glaube, dass Gott uns nicht hasst, und ich denke auch, dass er uns nicht bestrafen will. Ganz im Gegenteil: Er ist großzügig, und er liebt uns alle gleichermaßen, ungeachtet unseres Standes und unseres Geschlechts. Er will uns nicht das wegnehmen, was wir am meisten lieben, sondern er will uns daran erinnern, dass wir Lebenden den Toten näherstehen, als wir uns vorstellen können. Ist es für dich kein Trost zu wissen, dass dein Sohn womöglich nicht ganz dahingeschieden ist? Dass er in dir weiterlebt, in der tiefsten Tiefe deines Herzens?«
Unter dem Eindruck dieser Worte versiegte der Tränenstrom der untröstlichen Amme allmählich.
»Hab keine Angst, Conchita, ich bin nicht verrückt, wie einige sagen. Ich erzähle dir auch nichts von irgendwelchen kuriosen Phänomenen. Wir Freidenker haben solche Vorstellungen, auch wenn viele andere nicht unserer Meinung sind und uns deswegen angreifen.« Maria del Roser hielt inne und klopfte sich mit dem Handrücken auf den Schoß, ehe sie weitersprach: »Weißt du, was wir jetzt machen? Demnächst lade ich dich ein, an einem unserer Treffen teilzunehmen, und dann kannst du selbst urteilen. Du musst nur die Angst vor dem Denken verlieren und eine größere Selbstachtung bekommen. So, und wenn wir nicht unsere ganze heutige Lektion vergeuden wollen, machen wir jetzt mit den Labiallauten weiter. Es ist spät geworden!«
Einige Wochen später verkündete die Señora, wieder bei einer ihrer Leseübungen: »Nächsten Dienstagabend findet im Teatro Calvo-Vico eine Spiritistenversammlung statt. Wenn du meinst, dass dich interessiert, worüber wir sprechen, gebe ich dir den Abend frei.«
Concha war es nicht gewohnt, dass jemand seine Versprechen hielt. Und selbstredend hatte sie noch nie ein Theater betreten.
»Aber wer kümmert sich denn dann um die Kinder?«, fragte sie entgeistert.
Violeta war immer noch komplett von ihr abhängig und wachte nachts regelmäßig auf.
»Du wirst rechtzeitig wieder zu Hause sein«, versicherte ihr die Señora.
»Aber ich habe nichts Geeignetes zum Anziehen«, wandte Concha auf der Suche nach einer weiteren Ausrede ein.
»Du bist in deiner Uniform sehr hübsch. Und du wirst nicht die Einzige in Uniform sein.«
»Bei dem Treffen sind auch Dienstmädchen?«
»Aber natürlich, Conchita. Daran nehmen Männer und Frauen gleich welchen Standes teil. Kannst du dich nicht mehr an das erinnern, was ich dir über die Gleichheit der Menschen gesagt habe?«
Concha ging das alles über ihren Verstand. Wie konnte die Señora nur denken, dass sie in irgendeiner Hinsicht gleich waren? Sie, die arme Analphabetin, die ihr Leben lang nur Hunger gelitten hatte, und Doña Maria del Roser, die distinguierte, elegante Dame, die von allen hochgeschätzt wurde? Da die Señora nicht die geeigneten Worte fand, um die Zweifel ihrer Kinderfrau zu zerstreuen, schüttelte sie die ganze Zeit nur noch den Kopf.
»Ganz gleich, Conchita, komm einfach am Dienstag ins Teatro Calvo-Vico«, schlug Doña Maria vor, »und du wirst feststellen, dass das Wichtigste an jedem von uns nicht das ist, was am meisten glänzt.«
Zerknirscht und mit dem Leid einer Mutter, die ihr Baby zum ersten Mal anderen
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