Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
nichts Besseres zu tun?«
Da habe ich ihn gefragt, ob er denn nicht die Wahrheit erfahren wolle.
»Welche Wahrheit?«
»Über diese Frau. Über die Tote.«
Er hämmerte mit seinen perfekt manikürten Fingern auf dem Tisch herum. Er blickte sich um, schnalzte mit der Zunge und verdrehte die Augen.
»Wozu das denn? Wird die Wahrheit irgendetwas verändern?«
»Die Vergangenheit kann sich verändern«, flüsterte ich.
Mitten in unser düsteres Schweigen hinein wurde der zweite Gang serviert.
Ich wartete ab, bis der Kellner unsere Gläser mit Wasser nachgefüllt hatte, um Papa dann zu fragen, ob er sich jetzt an irgendein Detail erinnern wolle oder ob wir hier nur die Zeit vergeudeten.
»Ich fürchte, dass sich niemals jemand darum gekümmert hat, ob ich mich an etwas erinnern kann oder nicht. Jedenfalls ist das jetzt nicht mehr wichtig. Die Vergangenheit ist eine Mumie – wie diese Frau, um die du dir so viele Gedanken machst.«
Trotz seiner Widerstände stellte ich ihm noch weitere Fragen. Papa kennt Großvaters Werk, das weiß ich, er hat sich ausführlich damit beschäftigt. Sein Artikel über die Symbolik der Katzen in den Teresa-Porträts wird überall als Referenzpublikation zitiert. Ich fragte ihn, ob er mir wenigstens dabei helfen würde, in den Gemälden nach Hinweisen zu suchen.
»Was für Hinweise denn?«
»Alle möglichen Hinweise. Die Bilder können uns die Wahrheit sagen.«
»Die Kunst kann alles Mögliche sagen«, erwiderte er.
Dann führte er eine Olive zum Mund, kaute bedächtig auf ihr herum, betrachtete mich eine geraume Weile, bis er schließlich sagte: »Ich sehe schon, du nimmst dir das alles sehr zu Herzen.«
Ich spürte, wie unser Gespräch eine unbehagliche Distanz zwischen uns beiden geschaffen hatte. Wir beide fanden leider nicht mehr zu diesem heiteren Tonfall zurück, mit dem wir den Abend begonnen hatten.
Wir saßen schon vor unseren Tassen mit entkoffeiniertem Kaffee, als ich ihn in einer letzten Kraftanstrengung fragte, was wäre, wenn die Mumie seine Mutter sei.
Papa beschäftigte sich damit, die ungeöffneten Zuckertüten auf dem Muster der Tischdecke in Reih und Glied zu bringen. Er runzelte die Stirn, und sein Blick verlor sich ins Leere. Sein typischer Gesichtsausdruck, wenn er sehr verärgert ist.
»Violeta, schau, dass die Vergangenheit verändert werden kann, bedeutet nicht, dass wir das tun müssen«, sprach er in einem Tonfall, als verkünde er ein Gerichtsurteil. Er hob die Hand, um die Rechnung zu erbitten, und sagte noch: »Es ist sehr spät. Es wird Zeit, dass wir zu Bett gehen.«
Das Gleiche sage ich nun auch, Mama. Es ist sehr spät. Die Chronistin verabschiedet sich. Ich verspreche dir, so weiter zu machen und dir alles haargenau zu erzählen.
Ein Küsschen für dich und noch eines für Jason.
Vio
P. S.: Ich hatte noch keine Zeit, mir den Link anzusehen, den du mir mit deiner letzten Mail geschickt hast, aber ich werde das jetzt noch machen. Du hast also wirklich etwas über unseren rätselhaften Mann herausgefunden? Ich hoffe, der Blog lohnt sich, denn ich bin hundemüde.
Auszug aus dem Blog Eine Parzelle in der Hölle , verwaltet von Blackboy
Eintrag vom 31. Dezember 2007
Der Heilige, der keiner war
An seinem Grab fehlt es niemals an Besuchern, und noch weniger an Blumen. Die Friedhofsverwaltung hat die sechs angrenzenden Grabkammern gezwungenermaßen bereits verlegt, um für die vielen Votivgaben, Blumensträuße und Geschenke, die er jeden Tag erhält, Platz zu machen. Seine ewige Ruhestätte ist der meistbesuchte Ort des Ostfriedhofes, dem ältesten Friedhof von Barcelona. Von wem die Rede ist? Ich möchte euch eine besondere Persönlichkeit vorstellen.
Zu Lebzeiten hieß er Francesc Canals Ambrós. Er starb mit nur 22 Jahren am 27. Juli 1899, wie es heißt eines natürlichen Todes. Er war von einfacher Herkunft, so wie viele, die ihn heutzutage verehren, und er war in dem legendären Warenhaus Grandes Almacenes El Siglo angestellt, das für die damalige Epoche der Stadt so charakteristisch war. Es wird erzählt, dass er schon zu Lebzeiten wegen seines guten Herzens und seiner Wohltaten sehr bekannt war, dass er andauernd Opfer brachte, um anderen Leuten zu helfen, und dass er sogar die Gabe besaß, mit nur einem Blick in den Augen eines Menschen dessen Todesdatum sehen zu können. Anscheinend sagte er sogar seinen eigenen Todeszeitpunkt voraus. Allerdings ist der einzige Beweis dafür das, was die Leute sagen.
Die Grabkammer befindet sich hinter Glas, und
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