Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
tausend Wunder! Aber in diesem Land bleibt immer alles beim Alten. Die Pfaffen wollen einfach keine armen Heiligen haben. Es ist doch gleich, ob man ein Werkzeug Gottes auf Erden ist oder ob einen alle verehren. Warum sollen sie an uns denken, wir sind doch nur normalsterbliche Menschen? Sie begreifen überhaupt nichts. Und ich sage es allen, damit es endlich klar ist: Dieser Junge ist ein Heiliger, ein Volksheiliger, er ist ein sozialistischer, ein öffentlicher und ein unabhängiger Heiliger! Und das ist er schon bei seiner Geburt gewesen. Man weiß doch, dass er das andauernd gezeigt hat, solange er lebte. Sie wissen ja, wie es geschrieben steht, oder? ›An ihren Werken werdet ihr sie erkennen.‹ Eben. Worauf zum Teufel warten sie noch, um ihn in den Himmel zu schicken und zu einem offiziellen Heiligen zu machen? Begreifen die einfach nicht, dass er uns von da oben noch mehr helfen könnte? Kapieren die denn nicht, dass er eine vergoldete Krone verdient hat, einen Altar in einer Kirche, einen Tag im Kalender? Und außerdem sollte man ihn zum Schutzheiligen der Angestellten von allen Kaufhäusern in der ganzen Welt machen, oder?«
IX
Am Donnerstag, dem 9. April 1925, stattete Tatín Brusés – entgegen ihren großbürgerlichen Gewohnheiten und in Begleitung ihrer jüngsten Schwester – Maria del Roser Golorons einen Besuch zu Hause ab.
»Verehrteste, Sie werden verstehen, dass ich dieses so delikate Thema nur persönlich ansprechen kann«, begann sie, während sie sich in einer Wolke aus Rosenduft auf das gelbe Samtpolster fallen ließ und die in Seidenstrümpfe gehüllten Beine elegant übereinanderschlug. Um die Lippen trug sie ein beinahe abschätziges Lächeln und an Handgelenken und Ohrläppchen ein Rubingeschmeide, bei dem einige vor Neid erblasst wären, wenn auch nicht ihre Gastgeberin.
Neben Tatíns Exaltiertheit sticht das diskrete Verhalten ihrer Begleiterin unweigerlich umso mehr hervor. Teresa, die jüngste der sieben überlebenden Brusés-Geschwister, will einen guten Eindruck hinterlassen, aber ihr Blick schweift unermüdlich von einem zum anderen Winkel durch den Raum, vielleicht so wie es Tatín selbst tun würde, wenn sie nicht die Formen wahren müsste. Die Lax-Witwe kannte Teresa bereits von dem Porträt her, das Amadeo vor einigen Jahren gemalt hatte, als sie noch kurze Kleider trug. Aber nun stellt sie mehr als überrascht fest, dass aus Teresa eine junge Frau von einer umwerfenden Schönheit und mit einem traurigen Blick geworden ist.
Die beiden Schwestern sehen sich sehr ähnlich. Sie haben die gleichen goldenen Locken, die gleichen hellen Augen – auch wenn Teresas Augen größer sind und ihr Blau intensiver ist – sowie die feinen Wangen und das zarte Kinn. Dennoch, abgesehen von diesen Gemeinsamkeiten, sind sie sehr verschieden.
Tatíns Körper ist eher kompakt und gerade, sie hat einen kräftigen Hals, und ihre Hände und Füße scheinen etwas zu groß geraten. Teresa ist das völlige Gegenteil. Sie hat eine hübsche Wespentaille und verströmt die Aura einer unglücklichen Fee, die sie unwiderstehlich macht. Wenn man die beiden nebeneinander betrachtet, wirkt Tatín wie die etwas gröbere Version des gleichen Werkes, als hätte der Bildhauer mit ihr sein Probestück angefertigt, um sich später bei der endgültigen Version zu verausgaben.
»Du wirst sehen, Tessita«, sagt Tatín Brusés mit dieser Unvermitteltheit, die für ihren Umgangston typisch ist, »die Señora Lax versteht dich und wird uns helfen.«
Die jüngere Schwester beobachtet nach wie vor alles und schweigt dabei. Ein trauriges Lächeln umspielt ihre Lippen. Sie wirkt wie eine Blume, die auf den Frühling wartet.
Die Unterhaltung findet zu dieser Nachmittagsstunde statt, in der die Sonne alles vergoldet und den Dingen eine sinnliche Patina verleiht. Damit dieser Eindruck in seinem vollen Ausmaß wahrgenommen werden kann, hatte die Lax-Witwe angewiesen, die Vorhänge entsprechend zurückzuziehen und ihren Besucherinnen einen Platz seitlich der großen Fenstern zugedacht. Der Kamin ist nicht beheizt, und Wagners Tannhäuser räumt dem Grammophon eine romantische Hauptrolle ein.
Die Auswahl der Musik hatte sich als eine der schwierigen Entscheidungen dieses Nachmittags erwiesen, nachdem ein Bote ein handschriftliches Billett von Tatín übermittelt hatte, in dem diese ihren Besuch ankündigte, um ein »delikates Thema« zu besprechen. Mitten in ihren Vorbereitungen kam es der Señora auf einmal vor, als
Weitere Kostenlose Bücher