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Die Geister schweigen: Roman (German Edition)

Die Geister schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Die Geister schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Care Santos
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die Unabhängigkeit als Philosophie: das sind die beiden wichtigsten Vermächtnisse, die mir Modesto hinterlassen hat.
Als du mich damals angerufen hast, um mir mitzuteilen, dass euer neues Restaurant hervorragend lief und mein Zimmer fertig sei, zog Papa sofort los, um mir für die folgende Woche das Flugticket zu kaufen. Er wurde von einer Eile angetrieben, die ich – so glaube ich zumindest – mit ihm teilte: sich von mir zu befreien. Als er mir schon an der Tür des Taxis, das mich zum Flughafen brachte, seinen Abschiedskuss gab, stellte ich fest, dass wir beide den gleichen erleichterten Gesichtsausdruck hatten. Den Rest der Geschichte kennst du mehr oder weniger: Ich habe mir lange Zeit gelassen, bis ich ihn wieder traf, und wenn, dann immer nur als Gast und niemals für länger als eine Nacht. Du kennst ja meine Maxime: »Ins Haus der Eltern immer nur zu Besuch.«
Aber auf die Ferne ist Modesto ein Vorzeigevater gewesen. Ich habe immer gespürt, dass er sich über meine Leistungen ehrlich freute. Er hat oft an mich gedacht, und er bewies mir das, indem auch ich eine Empfängerin dieser witzigen Postkarten wurde, die er an alle Welt verschickt. Ich besitze Hunderte davon, so wie du. Manchmal denke ich, dass sie sehr gut meine Biographie ab meinem sechzehnten Lebensjahr illustrieren. Kürzlich habe ich sie zusammengesucht und sortiert. Zuerst habe ich sie chronologisch geordnet und in einem Ordner abgelegt. Aber nachdem ich die Texte auf den Rückseiten genauer studiert hatte, die niemals zu der Sehenswürdigkeit auf der Vorderseite passen, sortierte ich sie so, dass man sie lesen kann, ohne sie umdrehen zu müssen. Modestos Handschrift ist immer sehr klar und schön, wie von einem Schüler. Einige seiner Postkarten kenne ich auswendig.
Ich habe mich niemals getraut, ihm zu sagen, wie sehr es mir gefällt, dass mich seine Postkarten durch die halbe Welt verfolgt haben. Auch in den zwei Jahren, die ich in London gelebt habe, gab es keine Unterbrechung. Auf der ersten dorthin hat er geschrieben: Wir beide leben jetzt auf dem gleichen Kontinent, aber durch eine gefährliche Meerenge getrennt. Allmählich glaube ich, dass du das absichtlich machst. Auf der Karte, die er mir nach Barcelona an die Wohnung schickte, die ich von Großvater geerbt hatte, steht: Eine Wohnung ist erst ganz dein, wenn du dort deine erste Post erhalten hast. Also, herzlich willkommen in deinem neuen Zuhause, Violín.
Schon als junges Mädchen hat er mich so genannt: Violín. Mich hat das wahnsinnig gemacht. Ach, wie blöd sind Kinder zuweilen.
Wie du weißt, war Modesto ja nicht gerade begeistert, als ich mir vornahm, das Werk seines Vaters zu studieren, aber ich würde sagen, es hat ihn insgeheim dennoch gefreut. »Du hast alle Zutaten, um die beste Spezialistin auf der ganzen Welt für das Werk von Amadeo Lax zu werden. Sogar seine Sturheit«, schrieb er mir auf einer Postkarte mit dem Foto von einem Frosch. Das war 1995. Da war ich schon ein unabhängiger Geist und er ein erfreuter Betrachter. Als ich ihm verkündete, dass ich in die Staaten zurückkehre, war er davon nicht sonderlich angetan: »Schade, dass du aufgibst. Aber ich nehme an, wenn du jetzt aus der Stadt flüchtest, die du mit allen Kräften liebst, wirst du dafür deine Gründe haben«, schrieb er damals.
Ich bin geflüchtet. Genau. Er war der Einzige, dem das aufgefallen ist. Oder der Einzige, der es gewagt hat, es mir zu sagen.
Als ich ihm kurz darauf schrieb, um ihm zu berichten, dass man mir einen Job beim Art Institute in Chicago angeboten hat, schickte er mir das Foto von einer Sanduhr und folgende Botschaft: Die Toten haben viel Zeit und unendlich viel Geduld. Dein Großvater wird auf dich warten. Carpe diem.
Wie du siehst, hat er mit seiner Prophezeiung ins Schwarze getroffen. Die Toten haben die ganze Zeit auf mich gewartet.

Ich bin kurz auf die Straße gegangen, um etwas zu essen. Also, ich verspreche, bis zur nächsten Mail nicht so viel nachzudenken, und berichte dir endlich von unserem Wiedersehen.
Ich dachte, Papa hätte Lust auf landestypische Gerichte und habe deshalb im Quo Vadis reserviert. Wir sind von seinem Hotel aus zu Fuß dorthin spaziert, geschniegelt und zufrieden wie ein Liebespaar.
Im Restaurant studierte er die Karte, suchte nach Gerichten aus Bio-Produkten und berichtete mir, dass er seit neuestem Gemüse nur noch per Internet einkauft. Er kritisierte die schlechten Ernährungsgewohnheiten der Studenten und nebenbei auch noch das miserable

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