Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
ein Foto zeigt, wie er wohl gewesen sein mag: freundlich, jugendlich, mit einem offenen und klaren Blick. Zuweilen ist das Bildnis gar nicht zu sehen, weil seine »Jünger« diesen Hohlraum zweckentfremden und Zettel hineinwerfen, auf die sie sorgfältig ihre intimsten Wünsche notiert haben. Einmal im Monat entfernen die Friedhofswärter die Zettel, aber bald sind schon die nächsten da. Schließlich heißt es, wenn man Francesc Canals um etwas bittet, bleibt kein Wunsch ungehört. Um was auch immer man ihn bittet, es wird erfüllt. Deshalb verehrt das Volk ihn wie einen Heiligen, und deswegen ist er weniger unter seinem Tauf- und Familiennamen bekannt, sondern unter einem anderen Namen: »El Santet«, katalanisch für »der kleine Heilige«.
Ich nutze meinen Besuch, um einige der sichtbaren Zettel zu lesen. Ich weiß, so etwas macht man nicht, aber ich kann der Versuchung nur schwer widerstehen. Es gibt Wünsche für jeden Geschmack. Einige sind wirklich ergreifend: Ich will, dass mein Sohn wieder gehen kann … Ich will nicht zurück ins Gefängnis … Ich will María vergessen . Einige sind banaler: Ich will in meinem Beruf arbeiten … Mach mein Bein wieder gesund … Ich brauche Geld, Glück und Gesundheit … Bevor ich sterbe, will ich noch in die Berge fahren und den Moncayo sehen … Bitte schenk mir ein Meerschweinchen … Lass mich den Nobelpreis bekommen. Ich versuche, mir anhand der Handschriften die Menschen vorzustellen, die ihre Wünsche diesem Glaskasten anvertraut haben. Ich mache einige Fotos. Als ich damit fertig bin, nähert sich eine Frau mit Blumen. Ich trete zur Seite. Sie legt ihren Strauß zu den übrigen Blumen und betet kurz in der Stille. Danach will sie wieder gehen. Ich wage sie zu fragen, ob sie zum ersten Mal zu der Grabstätte dieser wundertätigen Persönlichkeit kommt und warum. Ihre Antwort lässt mich erschauern.
»Ich komme jeden Montag, um ihm für das zu danken, was er für mich getan hat und was er immer noch tut«, sagt sie.
Mehr erklärt sie nicht, und ich traue mich auch nicht, weiter nachzufragen. Ich lasse sie gehen und bin beeindruckt. Eine Katze beobachtet unbeirrt ihre Schritte von einem kleinen Mausoleum aus.
Bevor ich den Friedhof wieder verlasse, tausche ich mich mit dem Friedhofswärter aus. Er berichtet, dass die volkstümliche Verehrung für den »Santet« schon recht alt ist.
»Ich arbeite seit 1979 hier. Als ich begann, war das schon so. Jede Woche kommen Hunderte zu dem Grab, um sich etwas von ihm zu wünschen und ihm ihre Gaben zu bringen. Er wird auch der ›Santet de Poblenou‹ genannt, nach dem Stadtviertel hier, als würde ihm das jemand streitig machen. Ich habe irgendwo gelesen, dass all dies kurz nach seinem Tod begonnen hat, als einige seiner Kolleginnen seine Grabstätte besuchten und ihn um etwas baten. Anscheinend dachten sie, wenn er zu Lebzeiten so gut gewesen ist, würde er es auch nach seinem Tod sein. Ihre Wünsche gingen in Erfüllung, und so hieß es, dass Francesc Canals Wunder wirke. Und Sie sehen ja, das geht bis heute so. Die Wunder nehmen kein Ende, und die Bedürftigen auch nicht.«
Ich frage ihn, ob er selbst schon einmal die Wunderkraft des jungen Mannes in Anspruch genommen hat.
»Ja, schon, manchmal, aber ich kann Ihnen nicht sagen, worum ich ihn gebeten habe.«
»Aber können Sie mir vielleicht sagen, ob Ihr Wunsch in Erfüllung gegangen ist?«
Er wiegt bedächtig seinen Kopf und sagt nur: »Ja, er hat mir meinen Wunsch erfüllt. Und der war gar nicht so einfach.«
Ich habe Glück, der Mann ist redselig und hat heute nicht so viel zu tun. Er berichtet mir von einem kuriosen Glauben.
»Vielleicht ist es Ihnen ja nicht aufgefallen, aber dort geht ein Riss durch die ganze Grabtafel. Die Leute sagen, wenn man ganz intensiv dadurch schaut, sieht man schließlich auf der anderen Seite ein helles weißes Licht. Das ist das Jenseits, das Reich der Toten. Ich habe mich niemals getraut, dadurch zu sehen, weil ich denke, dass es wahr ist. Ich habe Leute kennengelernt, bei denen hat es im Leben Veränderungen gegeben, nachdem sie dieses Licht gesehen haben. Viele finden, man hätte den Jungen längst heiligsprechen müssen. Es gibt andere Heilige, die sind, na wie soll ich es sagen, nicht so erfolgreich. Aber er versagt nie. Es heißt doch, für eine Heiligsprechung muss man fünf Wunder bewirkt haben, oder? Der Junge hat doch die Grundanforderung dafür schon längst erbracht! Verdammt nochmal! Der bringt es doch auf mehrere
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