Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
mit dem verängstigten Juan umschlungen in dessen Bett, aber Amadeo gab sich damit nicht zufrieden. Er begann verzweifelt zu weinen, er schrie, sie solle zu ihm zurückkommen, er habe auch große Angst.
»Wenn du jetzt nicht sofort kommst, sterbe ich«, drohte er in seinem Wutanfall.
Amadeo stand auf und versuchte, Concha von seinem Bruder wegzuziehen, aber die Kinderfrau zeigte sich unnachgiebig. Also kehrte er krank vor Wut in sein Bett zurück und begann damit, seine Stirn mit voller Wucht gegen das Kopfteil zu knallen. Dies tat er so oft, bis Concha endlich aufstand und ihn genau in dem Augenblick packte, in dem er sich noch einmal selbst verletzen wollte. In seiner Stirn klaffte eine kleine Wunde. Die Frau musste Juan allein lassen – die kleine Violeta schlief in ihrem Gitterbett und bekam von alldem nichts mit – und holte Wasser und Seife, um Amadeos Wunde zu reinigen. Den Rest der Nacht verbrachte sie auf dem Teppich, wo sie den Jungen wie ein Baby wiegte und ihm immer wieder ins Ohr flüsterte: »Junge, warum hast du das gemacht? Warum tust du mir das an?«
Dabei hatte Amadeo sich sehr früh angewöhnt, seinen Willen durchzusetzen. Das Ganze hatte begonnen, nachdem er mit seinem Bett in Conchitas Zimmer verlegt wurde, damals, als sie so gern beim Einschlafen zu dem sanftmütigen Gesicht ihres Kleinen blickte und eine Hand zwischen die Gitterstäbe schob, um seine Wange zu streicheln. Wenn dann der Junge auch nach ihren Fingern griff, schloss sie die Augen und war glücklich.
»Dafür, dass du noch so klein bist, hast du einen großartigen Namen«, sagte sie einmal zu ihm. »Aber für mich bis du mein kleiner Süßer, mein ›Bonito‹, denn das bist du – der süßeste kleine Junge der Welt.«
Eines Nachts – Amadeo war wohl um die fünfzehn Monate alt – stellte Conchas »kleiner Süßer« eine neue Regel auf. Er wachte gegen drei Uhr morgens auf, sah zu seiner Amme und kletterte ohne weitere Umstände einfach über die Gitterstäbe aus seinem hinüber in ihr Bett. Er kuschelte sich an sie und Concha durchströmte eine wohlige Wärme, als sei er ein kleines Tier. Im Halbschlaf murmelte sie nur: »Kleiner Süßer, geh wieder in dein Bettchen zurück.«
Aber das half nichts. Amadeo verfügte bereits hier – so wie viele Jahre später in einem anderen Untergeschoss – einfach über das andere Bett und über den anderen Körper, als seien sie sein Eigentum.
»Bonito …«, flüsterte sie hilflos.
»Tito hier«, gab er in seiner Kleinkindsprache von sich, die Concha so liebte, und sie schloss kapitulierend die Augen.
Von da an erinnerte die Amme ihren süßen kleinen Jungen nicht mehr daran, dass er in seinem Bett zu schlafen hatte. Zu sehr genoss sie seine bedingungslose Hingabe, seine herzliche Umarmung, die Bestimmtheit, mit der er sie liebte und vorzog. So etwas hatte sie noch nie zuvor erlebt. Mit niemandem.
Als sie dann das Zimmer im oberen Stockwerk bezogen, ging es mit dieser Gewohnheit weiter, wenn auch nicht mehr jede Nacht. Amadeo verließ sein eigenes Bett, wenn ihm danach war, und legte sich zu Concha. Als er größer und ihr Bett für beide zu schmal wurde, tat sie die halbe Nacht kein Auge zu, weil sie befürchtete, sie könne einschlafen und der Junge aus dem Bett fallen. Aber sie fühlte sich entschädigt. Denn Amadeo umarmte sie nun mit noch mehr Kraft und flüsterte ihr ins Ohr, wie sehr er sie liebte. Oft weinte er verzweifelt und schluchzte wie ein Kleinkind, und Concha beruhigte ihn mit Worten und Liebkosungen. Und das gelang ihr immer. Die Kinderfrau war damals dem Erstgeborenen der Eheleute Lax der einzige Balsam für die traurige Seele, mit der dieser ohne offensichtlichen Grund auf die Welt gekommen war.
In der Woche, die auf die Ankündigung des Internats folgte, weinte Concha jede Nacht. Sie wartete, bis Amadeo eingeschlafen war, um ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Es tröstete sie keineswegs, sich zu sagen, dass so ein Junge etwas lernen müsse, dass sie ihn schon weit über jede Erwartung allein für sich gehabt hatte, dass sie ihn nun ziehen lassen müsse, damit aus ihm das würde, was seine Eltern von ihm erwarteten. Concha dachte nur daran, dass nun die schönste Zeit ihres Lebens zu Ende ging.
Im neuen Haus nahmen Amadeos Wutanfälle immer besorgniserregendere Formen an. Der Auslöser – oder einer von vielen – war seine große Leidenschaft: das Malen. Bis dahin hatten es alle wohlwollend hingenommen, wenn er ein Zeichenheft nach dem anderen
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